Nur gelaufen?
Allerdings muss ich zugeben, dass ich von diesen 100 Tagen nicht einmal die Hälfte gelaufen bin. 53 Tage entfallen auf sogenannte Standzeiten. Das sind Zeiten, an denen ich nicht nur faul war, sondern etwas anderes gemacht habe als nur zu laufen, z.B. krank sein mit einer Blasenentzündung, oder helfen im Ahrtal, oder Weihnachten feiern mit Freunden und Geburtstag feiern mit Tochter Kathi.
Darüber kann jeder denken, wie er will. Für mich waren es die aufregendsten zusammenhängenden 100 Tage solange ich denken kann. In dieser Zeit habe ich ausschließlich Positives erlebt! Habe wechselnde Landschaften gesehen, flaches Land, weites Moor, Wälder, Bergisches Land, Industriegebiete, Mittellandkanal, Rhein und Main. Vielerlei laufendes und fliegendes Getier. Was mir aber am meisten gefallen hat, waren die Begegnungen mit wundervollen Menschen die ich kennenlernen durfte und kostbare Freundschaften mit ihnen schließen konnte. Es stimmt wirklich und man kann es wörtlich nehmen: Fremde sind Freunde, die man noch nicht kennt. Das hatte ich zu Beginn kaum zu hoffen gewagt.
Keine Reue
In der Vorbereitung auf den Marsch habe ich viel gelesen, vor allem Berichte und Blogs im Internet. Etliche haben davon erzählt, dass sie irgendwann einem Punkt angekommen sind, wo sie sich fragten "wie verrückt bin ich eigentlich dass ich mir das antue?". Auf diesen Moment warte ich bislang vergebens.
Ob ich den Verkauf meines Hauses bereue? Nicht die Spur. Es ist gut so. Natürlich gehen meine Gedanken hin und wieder zurück und ich stelle mir vor, wie Nils und seine Familie sich dort eingerichtet haben. Seine WhatsApp-Status Meldungen schaue ich mir jedoch nicht an, weil ich weiß, es würde weh tun. Alles hat seine Zeit. Und hier braucht es noch ein wenig Zeit bei mir...
Mama
Bezüglich meiner Mutter mache ich mir oft Gedanken. Im Kalender habe ich mir schließlich eine Erinnerung eingerichtet, um sie zu geeigneten Zeiten immer wieder mal anzurufen.
Es bekümmert mich sehr, wenn ich den Eindruck bekomme, dass sie mit ihren 88 Jahren immer deutlicher abbaut.
Dies ist das einzige, das mich auf meiner Reise etwas belastet! Da wünschte ich, ich könnte ihre Krankheit aufhalten oder einfach für sie da sein.
Follower
Schwer beeindruckt bin ich von der ständig steigenden Zahl derer, die meinen WhatsApp Status tätlich verfolgen. Dabei gibt es auch sehr viel Interaktion mit Fragen und Kommentaren. Das ist lustig und macht Spaß! Nach 100 Tagen sind es rund 150 Watcher. Beim Blog erheblich mehr. Wer hätte das gedacht?
Wege, Abwege und Herbergen
Man könnte mich eigentlich auch einen Strich-Jungen nennen. Denn ich folge einer Linie, die den markierten Jakobswegen entspricht. Dieser Strich ist in der Karte rot eingezeichnet. Dies sind Wege, die in der Regel fernab der Straße auf Feld und Waldwegen verlaufen. Allerdings finde ich meine Herbergen nicht immer - eigentlich nie - direkt auf dieser Linie liegend. Das führt dazu, dass ich auf Abwege gerate. Manchmal sogar mehrere Kilometer weit ins Abseits.
Dann gehe ich häufig auf der Landstraße oder über verbotene Eisenbahnbrücken und lasse mich mehr oder weniger von Google Maps leiten. Autobahnen vermeide ich jedoch konsequent!
Unterwegs werde ich auch häufig angesprochen und gestoppt, weil die Leute neugierig sind und wissen wollen woher ich komme und wohin ich gehe. Auch hier ergeben sich oft tolle Momente und dauerhafte Kontakte.
Zum Beispiel war da jemand der einen uralten Ami-Jeep originalgetreu restauriert hat und ganz stolz vorgeführt hat. Ein anderer befand sich mit seiner Freundin unmittelbar beim Umzug nach Spanien, der mich eingeladen hat, sie dort zu besuchen. Es würde zu weit führen, alle Begegnungen hier auszuführen. Aber jede ist einzelne davon ist mir kostbar.
Die Herbergssuche stellt eine besondere Herausforderung dar und nimmt oft reichlich Zeit in Anspruch. Natürlich versuche ich mehrere Tage im Voraus Unterkünfte festzumachen. Meine Vorgehensweise ist folgende: Kontakt zu Pfarrbüros und Touristeninformation, couchsurfing.com, Anfragen in die Facebook-Gruppe "Pilger sucht Dach" stellen, Empfehlungen durch Freunde.
Letzteres hat sich bisher als am effektivsten erwiesen. Da gibt es so gut wie keine Absagen, dafür und stattdessen die wunderbarsten Momente und Gespräche, denn ich werde mitten in die Familien aufgenommen. Bei Facebook und couchsurfing.com ist das größtenteils auch so. Einmal wurde ich weiterempfohlen von Leuten, die mir zuvor von meinem Bruder empfohlen wurden und fand dadurch eine neue Bleibe. Ein andermal durfte ich mir schon kurz nach meiner Ankunft die ganze Liebesgeschichte des Gastgeber-Ehepaares anhören, die schon über 25 Jahre zurückliegt.
Es ist auch schon öfter vorgekommen, dass ich morgens meinen Zielort ansteuere, ohne eine Zusage für eine Unterkunft zu haben. Einmal musste ich direkt bei Leuten fragen, wo ich mich gerade befand, denn den nächsten Ort hätte ich erst bei Dunkelheit erreicht. Dort wurde mir eine Blockhütte im Garten zur Übernachtung angeboten. Das war wunderbar, ich hatte ein Dach über dem Kopf und eine Heizung stand auch im Raum.
Hotels konnte ich bisher vermeiden, denn Hotels passen nicht so recht zu meinem Verständnis vom Pilgerleben. Viermal habe ich mich bisher in Klöstern einquartiert. Das ist wenig spektakulär, denn tatsächlich sind das Gästezimmer, ähnlich wie in Hotels. Mal etwas veraltet, mal schick und neu. Der einzige Unterschied ist, dass die Pforten oder Tore der Klöster Schließzeiten haben, dann muss man drin sein. Sonst schläfste draußen.
Fazit
Die Randbedingungen waren für mich günstig, um den Jakobsweg zu gehen. Ich bin froh, dass ich das gemacht habe. Es ist ein großartiges Erlebnis, so vieles Verschiedenes und zu Herzen Gehendes zu erleben.
Manche haben mir gesagt, er oder sie würde das auch gerne tun, aber es würde nicht funktionieren. Da ist Familie, Kinder, Arbeit, ein Sack voll Verpflichtungen.
Diese ersten 100 Tage haben auch mir noch nicht die Antwort auf die Frage geliefert, ob ich das nicht schon hätte früher anfangen und das eine oder andere dafür aufgeben sollen - oder nicht? Warten wir mal ab, das kann ja noch kommen.
Auf jeden Fall habe ich nicht einen einzigen Tag, nicht einen einzigen Schritt bereut. Ich würde es wieder tun.