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Freitag, 30. Dezember 2022

Grenzerfahrung mit Hund

Frage
Was machst du, wenn du es mit einem Hund zu tun bekommst, den du nicht kennst und der ungehindert auf dich zukommt?

Mit dieser Frage hatte ich mich immer wieder einmal beschäftigt, seit ich meine Reise begonnen habe. Gerade mit Olaf, meinem Freund und Hundeexperten, hatte ich mehrfach darüber gesprochen, um mehr über das Verhalten von Hunden zu erfahren. Ebenso sprach ich ausgiebig mit David, einem Pilger aus der Schweiz, der sich mit diesen Tieren auskennt, über diese Frage. 

Strategie
Stillstehen, offene Handflächen zeigen oder möglichst großen Bogen um das Tier machen, lauteten die Empfehlungen, unter Umständen sich mit den Wanderstöcken verteidigen. Nun, für mich waren all diese Ideen schlicht unbrauchbar. Wer weiß denn schon, wieviel Geduld der Hund hat, wenn ich stehen bleibe? Eine, zwei oder mehr Stunden? Kommt er zurück, wenn er sich entfernt hat und von weitem sieht, wie ich weitergehe? Offene Hände würde für mich bedeuten, die Wanderstöcke wegzulegen. Womöglich schnappt sich der Hund die Stöcke und haut damit ab - und hätte dann keine mehr? Einen großen Bogen machen, wenn der Bursche mich entdeckt hat oder vor mir steht? Verteidigen? No way - das sind alles keine wirklichen Optionen für mich. 

Meine eigenen Gedanken dagegen waren diese: 
1. Solange der Hund nicht beißt, werde ich ihn nicht beachten und nicht anschauen. 
2. Ich werde nicht sprechen.
3. Ich werde genauso weitergehen, wie ich daher komme.
4. Ich werde meine Wanderstöcke so nah an meinem Körper halten, wie irgend möglich.
Das ist alles, was mir eingefallen war. 

Unterwegs gab es dann ja oft genug Situationen, wo Hunde bei einsam stehenden Gebäuden und Bauernhöfen, besonders in Frankreich, die sich an der Kette oder hinter einem Zaun mit lautem Bellen oft ziemlich aggressiv verhielten. Oft genug habe ich mich dabei ziemlich erschrocken, wenn ich gerade in Gedanken war und die Tiere nicht vorher gesehen habe. Dann habe ich mir diese Strategie immer wieder vor Augen geführt - und es fühlte sich irgendwie richtig an.

Der Ernstfall
Natürlich kam es irgendwann auch, wie es kommen musste. Es war am 23.11.2022 auf dem Weg von Lepe nach San Juan del Puerto in Richtung Sevilla. Mein Weg verläuft auf einem stillgelegten Bahndamm schön weit abseits von bewohnten Ortschaften durch leicht hügeliges Gelände mitten durch eine verstreut liegende Schafherde. Total entspannt höre ich gerade einen super interessanten Podcast über Liebe und Sex. Die Schafe waren mir dabei sowas von egal - nur scheinbar nicht den beiden Hunden, die ich vielleicht so 30 bis 50 Meter rechts oben auf der Anhöhe entdecke. Ein Großer und ein Kleiner. Das müssen wohl die Aufpasser für die Schafe sein. Ich stelle fest, dass keine Kette, kein Zaun, nichts da ist, was mich von den beiden isoliert. Ich denke bei mir, die werden doch gefälligst da oben stehen bleiben. Meine Gedanken machen sich selbständig und gehen automatisch meine Strategie durch: nicht hinschauen, einfach weitergehen! Der Kleine macht ja einen Krach, der meinen Podcast übertönt. Ich kriege gerade noch mit, wie der Kleine zum Großen bellt, "Hey, das ist dein Fall". Und schon kam der so beauftragte Große angeschossen. Format Rottweiler, aber grau gescheckt und schlankere Schnauze. Zu weiterer Identifizierung bleibt keine Zeit (das Titelfoto - noch nicht genehmigt - entspricht meiner Erinnerung). In einem Bogen von mit ca. 10 m Abstand machte er den ersten Kreis um mich verkleinerte diesen dann auf seiner zweiten Runde auf etwa 3 m mit lautem Bellen. Jetzt springt er mit gefährlich klingenden Knurren mehr oder weniger hinter und seitlich von mir im Halbkreis herum. Ich sehe ihn nur noch aus dem Augenwinkel, wenn er sich seitlich befindet. Stattdessen verfängt er sich mehrfach in meinen Wanderstöcken und landet mit seinen Pfoten auf meinen Hacken. Seine Krallen hinterlassen Kratzspuren auf meiner Haut, denn ich laufe ohne Socken in meinem Sandalen mit abgezippten Hosenbeinen. Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Ich konzentriere mich darauf, die Stöcke so fest zu halten, dass ich sie nicht verliere, wenn er Mal richtig draufspringen sollte. Ich behalte einen gleichmäßigen Schritt bei, auch wenn Löcher im Weg mich zick-zack laufen lassen. Dabei vermeide ich es erfolgreich, an mögliche Weltuntergangsszenarien zu denken, nach dem Motto 'was, wenn er jetzt zubeißt...'. 

Der Podcast läuft noch immer - und ich merke, dass meine Hörgeräte, über die ich den Podcast wie über einen Kopfhörer höre, die Außengeräusche nicht verstärkt, damit die Audioübertragung besser zu hören ist. Als mir das bewusst wird, bin ich unendlich dankbar dafür. Jetzt fange ich an, mich wieder auf den Podcast zu konzentrieren und lenke mich mehr und mehr von dem Hund ab, der immer noch wild hinter mir herum springt und auch immer noch auf meine Hacken tritt. Wenn er beißen sollte, werde ich mich darum kümmern. Und bis dahin höre ich meinen Podcast. Später stelle ich fest, dass ich davon nichts behalten habe *lach*.

Dieser Hund hat mich einen oder zwei Kilometer weit "begleitet", bis es still um mich wurde. Umgedreht habe ich mich jedoch nicht mehr. 

Epilog
Überrascht hat es mich, dass mein Herzklopfen und die Angst sehr schnell verschwunden waren, als ich eine mögliche Beißattacke als nicht abwendbar akzeptierte und mich auf das stetige Weitergehen konzentrierte. Als ich etwa eine Stunde später eine Ortschaft erreichte, war ich schon wieder komplett entspannt und ließ das Ereignis Revue passieren.

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