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Dienstag, 2. August 2022

Der Spanische Küstenweg und das Ende der Welt

Eine ganz neue Grenzerfahrung 🇫🇷-🇪🇦
Die Strecke am 15. Juni 2022 wurde lang und länger. Morgens in Sare, einem Dorf der französischen Pyrenäen gestartet, sollte die Tour mit vielen ermüdenden Aufs und Abs die spanische Grenzstadt Irun das Ziel für die nächste Übernachtung sein. Soweit mein Plan. Irgendwie bin ich richtig gut vorwärts gekommen, und zwar ohne zu cheaten - ehrlich. Großes Indianerehrenwort! Um die Mittagszeit befand ich mich nämlich bereits in Irun und auf spanischen Boden.

Wenn man weiß, dass der Übergang vom Wanderweg GR65 von St. Jean Pied de Port zum Camino del Norte zwar markiert ist, es jedoch an einem Wanderführer mit Herbergsliste in der Art des 'Miam Miam Dodo' oder einer entsprechenden Website völlig fehlt, dann bedeutet es, dass der Pilger kaum Pilgerherbergen findet. Die Ortschaft Sare war ein Glücksfall. Der dortige Campingplatz verfügt über ein separates Haus mit einer Anzahl Betten und der Pilger braucht sich nicht die sanitären Anlagen mit Campern teilen. Dort also recht früh gestartet, befand ich mich - wie gesagt, sehr zeitig in Irun.

Halb eins! Hey, dss ist definitiv zu früh, um in der Herberge abzusteigen. Außerdem hatte ich noch nicht einmal eine solche gebucht. Da ich mich von hier an auf dem "Camino del Norte", dem Spanischen Küstenweg befinde, gibt's mit Hilfe der mehrsprachigen App Buen Camino alle erforderlichen Infos über Sehenswürdigkeiten, Beschaffenheit der Wege und alles über die Herbergen in den verschiedenen Orten am Weg bis ganz nach Santiago. Hier und jetzt stellte sich für mich die Frage, wo befindet sich eine Herberge in ungefähr zwei bis drei Stunden Entfernung von meinem jetzigen Standort? Ich gucke, uns sehe, da ist keine eingetragen. Keine einzige. Mist! Für die nächste müsste ich 19 km zurücklegen. Dafür brauche ich aber mindestens fünf bis sechs Stunden. Scheibenkleister!!! Aber hier bleiben schockt auch nicht so richtig. Mit nur wenig Überzeugung und etwas Bammel entscheide ich mich schließlich fürs weiterlaufen. Der Weg geht über den Höhenzug Jaizkibel, der seine 270 m Höhe auf 12 km bis Pasaia verteilt. Als ich unterwegs auf die App schaue, fällt mir auf, dass die Herberge um 22 Uhr schließt. Himmel, A.... und Zwirn! Ich sollte vielleicht mal anfragen, ob die mich auch später rein lassen. "Nein nein nein, das geht nicht..." kam die freundliche Antwort am Telefon. Wie weit ist es noch? 8 km. Macht zweieinhalb Stunden bei meiner Durchschnittsgeschwindigkeit von 3,5 km/h - ohne Pause. Und es ist bereits 20 Uhr. "Das wird nix" konstatiert mein innerer Kritiker und lacht sich eins ins Fäustchen. Jetzt brauche ich aber keinen schadenfrohen Dummschnacker, sondern einen, der mir Feuer untern Arsch macht und Speed in die Beine gibt. Hallo, innerer Antreiber, wo steckst du? Jetzt brauche ich dich mal, sonst schlafen wir allesamt unter irgendeinem Baum! Und ZACK ist er auch schon zur Stelle und weiß genau, was zu tun ist. Ich konnte es selbst kaum glauben, plötzlich war mein Weg potteben, wie in der norddeutschen Tiefebene, trotz Gebirge! Und meine Ankunft an der Herberge war 21.40 Uhr. Cool, mit dem inneren Team kann man ja richtig arbeiten. Das werde ich mir merken.

Die Spanische Nordküste
Was ich im Voraus nicht wusste, war, dass das Bergland dort im Norden eine geologische Verlängerung der hochalpinen Pyrenäen darstellt. Die höchsten Gipfel mit bis zu 2.650 m befinden sich im Gebiet "Picos de Europa". Der Anblick dieser Gebirgskette vom Strand von Playa de Merón bei San Vicente ist einfach phänomenal und lässt sich mit Worten nicht beschreiben.
Die Wanderroute verläuft nun aber nicht durch die hohen Berge, sondern nahe der Küste. Nach meinem Empfinden allerdings nur bis etwa zu 50% unmittelbar vor der Küste. Dort führt der Weg entlang über hohe Felsklippen, die sich abwechseln mit Buchten, die von herrlichen Stränden gesäumt sind. Mal schaust du von oben auf die Wogen, die donnernd auf Felsen klatschen, mal läufst du den Strand entlang und staunst, wie hoch die Wellen aufsteigen, bevor sie mit Getöse brechen und bis zu deinen Füßen herauf spülen.
So gut wie jeder Badestrand hat eine oder mehrere Surfschulen. Für mich als Pilger eine entsetzliche Versuchung da zu stoppen und mich einzuschreiben. Denn ich liebe Wassersport. Würde ich hier eine Pause einlegen, wäre meine Pilgerreise vermutlich Geschichte. Zum Glück habe ich ja meinen inneren Antreiber, der Santiago und eventuell auch Finisterre im Sinne hat. Ihm überlasse ich diesbezüglich das Regiment. Also keine Surfschule. Später!

Der Camino del Norte führt auch mal ein Stück weg von der Küste. Meerblick ist über manche Strecken nicht gegeben. 

Begegnungen
Während ich in Frankreich überwiegend Franzosen in den Herbergen angetroffen habe, ist es ab meiner ersten Herberge in Spanien - in Pasaia, eine international bunt gemischte Truppe aus Spaniern, Tschechen, Italienern, Holländern und Deutschen. Später wurde das Feld ganz eindeutig von US-Amerikanern dominiert. Aus meinen Begegnungen möchte ich einige hervorheben, die mich besonders gefreut und inspiriert haben. Da war Yves aus Belgien, der den ganzen Weg von Zuhause mit Esel und Zelt machte; dann Candela von Teneriffa, mit der ich über den Wert der Gelassenheit philosophierte; Renee aus USA, die von oben bis unten durchtätowiert ist. Bei ihr finde ich ihre Tätowierungen am rechten Handrücken, der vollständig schwarz ist, sowie weiße Ornamente an Stirn und Hals bemerkenswert. Obendrein ist sie ein unglaublich witziges Mädel; Valmar, ein ruhiger, braungebrannter aber total cooler Typ aus Estland; Dee, the sweet Bee from Ireland; Emil der Mentalist, mega-cool, aus Slowenien; ferner Erik, der Dänisch sprechende Franzose, den ich so unglaublich herzlich und emotional erlebt habe. Mit ihm hatte ich auch das längste immer-mal-wieder-treffen von Bilbao bis nach Santiago; und - last but not least: José, ein Einheimischer in Asturias, dem es eine Freude war, mir seine Zeit und sein Wissen zu widmen. Darüber habe hier geschrieben

Eigentlich müssten noch mindestens zwanzig oder dreißig weitere tolle Leute erwähnt werden. Jede einzelne Begegnung war speziell und inspirierend. Hier ein paar Namen, die mir auf die Schnelle einfallen: Emily, Madeline, Sonia, Sam + Magi, Lane allesamt aus USA, Doris aus dem Allgäu, Elke aus Sachsen, Monika aus der Schweiz, Carmen vom Oficina del Peregrino in Santiago, Jorge aus Spanien, André aus Tschechien, und so weiter... Mit all diesen Menschen sind auf besondere Weise Verbindungen entstanden.
Dann gab es aber noch diese drei Begegnungen in Spanien, die mir besonders viel bedeuten und die ich auf keinen Fall unerwähnt lassen darf:
 
Harald - wir kennen uns schon deutlich länger als sechzig Jahre. Das kann bei leiblichen Brüdern nach einer gewissen Zeit schon mal vorkommen. Dieser Kerl hat mich unschuldigen Pilger jedenfalls aufs heftigste mit seinem Auftauchen in Luarca auf "meinem" Weg überrascht. Hier gibt's die ganze Story darüber zu lesen...
Mit Harald ging es nun durchaus unerwartet, dafür umso lustiger, zu Zweit weiter bis Santiago. Harald hat sich wacker geschlagen und tüchtig Kilometer gemacht. Ein bisschen nervig waren für ihn die Wärme und die Steigungen, vor allem wenn sie zusammen auftraten. Dann heißt es "Pilger hilft Pilger", da beißt die Maus keinen Faden ab...!

Heike - Wir kennen uns seit neun Jahren. Immer wieder haben wir Gelegenheiten genutzt, uns wiederzusehen. Das letzte Mal war in der Schweiz. Wir berichteten. Nun hatte Heike noch zehn Urlaubstage zu verbraten und wollte mit mir den Abschluss nach Santiago laufen. Damit war ich jedoch nicht einverstanden, weil ich nach rund 4.000 Kilometern allein ankommen wollte (von Harald's Überraschung wusste ich ja noch nix). Also haben wir uns ungefähr drei Wochen zuvor für die Zeit nach Santiago verabredet. Ganz ehrlich, das würde ich nicht nochmal wieder so machen. Also mit Heike verabreden schon, aber nicht drei Wochen vorher auf dem Pilgerweg. Von da ab, war es nämlich ein Lauf nach dem Kalender - gar nicht toll! Das Treffen selbst dagegen war toll, haben die Etappen bis Finisterre ja gemeinsam bewältigt, sind ein Stück den Portugiesischen Pilgerweg rückwärts, das heißt von Santiago nach Porto, marschiert und haben uns die absolut sehenswerte Stadt Porto angeschaut.

Yucy - Wir kennen uns als gegenseitig Interessierte einer Fremdsprache übers Internet. Ich suchte jemanden zum Spanisch sprechen und sie jemanden zum Englisch sprechen. Durch die Tandem App ist unser Kontakt entstanden. Nun ja, gelegentlich telefonierten wir miteinander, aber fast nur Englisch. Mit dem Fortschritt meiner Pilgerreise wurde die Wahrscheinlichkeit einer persönlichen Begegnung immer größer, weil der Camino del Norte durch Luarca verläuft und Yucy eben dort wohnt. Es würde vielleicht ein bisschen weit führen, die Begegnung in Einzelheiten auszuführen, aber alles in allem war auch dies eine überaus erfrischender Moment.
Santiago de Compostela
Für einen Jakobspilger ist das Erreichen von Santiago de Compostela der ultimative Höhepunkt seiner Pilgerfahrt. Und nicht wenige nehmen sich dann auch gleich noch Finisterre, das Ende der Welt vor. Zu dieser Gruppe gehöre auch ich - wenn schon, denn schon! Sind ja eh nur 90 Kilometer weiter.
Den Einmarsch nach Santiago am 18. Juli 2022 empfand ich als etwas Schönes, denn das Wetter war herrlich klar und Harald war mit dabei. Ansonsten war es wie in anderen Städten. Auf den emotionalen Breakdown, von dem so viele Pilger erzählten, wartete ich jedoch vergeblich. 
Stattdessen habe ich den Augenblick in völliger Gelassenheit auf dem großen "Platz des Obradoiro" vor der Kathedrale ausgekostet, Fotos geschossen und habe mir die "Compostela", das Zertifikat, ausstellen lassen. Und na klar, die Pilgermesse haben wir uns auch nicht entgehen lassen. Allerdings wurde das große Weihrauchgefäß NICHT für uns durch den Saal geschwungen. Was soll's, man kann schließlich nicht alles haben.
Den einzigen Pilger, den ich hier wiedersehe ist Eric, der Dänisch sprechende Franzose. Wir liegen uns minutenlang in den Armen. Ich glaube, das versteht nur jemand, der den Weg einmal gemacht hat.
Diesen besonderen Tag haben Harald und ich dann mit Spanischen Tapas und Vino Tinto würdig abgefeiert.

Wenn der Jakobsweg zu Ende geht
Schichtwechsel in Santiago: Wir schreiben den 19. Juli 2022, als Heike angeflogen kommt. Zwei Tage später entschwebt Harald in Richtung Berlin. 

Nun geht's noch nach Finisterre (Spanisch), oder Fisterra (Galicisch). Ich glaube, ich habe noch mindestens zwei weitere Schreibweisen gesehen. Jedenfalls sind das nochmal vier Kilometer extra hinter der Ortschaft Finisterre. Es ist eine felsige Halbinsel, auf deren äußerem Punkt der Leuchtturm steht. An den verschiedenen Riten, die irgendwelche Pilger sich haben einfallen  lassen, wie beispielsweise seine Wanderschuhe ins Meer werfen oder sie verbrennen, habe ich mich nicht beteiligt, weil ich keinen Sinn darin sehe. Dutzende, wenn nicht hunderte von Pilgern haben sich hier versammelt und warten auf den Sonnenuntergang. Ich ebenfalls!

Hier steht auch der Meilenstein mit 0,000 km. Genau da wollte ich ankommen. Das Foto dokumentiert diesen Moment.
Selbst am Ende der Welt musst du dich benehmen! Treffe ich hier doch tatsächlich auf Simone mit ihrem Sohn Mattis (hoffentlich habe ich seinen Namen richtig geschrieben). Was ist Besonderes daran? Nun, die beiden kommen aus Harsefeld, meiner Nachbargemeinde der Neuapostolischen Kirche als ich noch ein Zuhause hatte.

Mit dem Sonnenuntergang an diesem Tag, am 23. Juli 2022 und dem 281. Tag nach meinem Aufbruch in Ahlerstedt, endet meine Pilgerschaft auf meinem persönlichen Jakobsweg. Die untergehende Sonne nimmt diese Reise mit ins Meer der Vergangenheit. 
Was bleibt, sind Erinnerungen an endlos viele magische Momente mit bezaubernden Menschen. Ebenfalls bleiben Veränderungen, die ich an mir selbst erleben konnte. Darüber mehr im nächsten Artikel.

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