Posts mit dem Label Ewigkeit werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Ewigkeit werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Montag, 20. Oktober 2025

Horsts Abschied von OHJ

 

Abschied von Onkel Hans-Jürgen

Am 2. August 2025 befinde ich mich in Arequipa, der zweitgrößten Stadt Perus, als Gerald mir per WhatsApp ein erschreckendes Foto von meinem Onkel Hans-Jürgen auf dem Sofa liegend schickt, mit den Worten: Frag nicht... bete!

Onkel Hans-Jürgen, den ich seit meiner Jugend immer nur OHJ nenne, ist 96 Jahre alt und der vorletzte lebende Mensch aus meiner Elterngeneration. Das Verhältnis zu ihm und seiner bereits 2009 verstorbenen Frau, meiner Tante Mariechen, war stets ein besonderes – eines, das ich mit keinem anderen Onkel oder keiner anderen Tante aus meiner großen Verwandtschaft teilte. Dazu später mehr.

Die Nachricht von Gerald löst größte Besorgnis aus. Ich erfahre, dass OHJ seit Wochen so gut wie keine Nahrung mehr zu sich nimmt. All das erinnert mich an meinen Vater, der vor fast 40 Jahren ähnlich aussah, als er am Ende seines Lebens keine Nahrung mehr aufnehmen wollte.

Sofort beginne ich im Internet nach Flügen zu suchen. Ich möchte alles daransetzen, OHJ vielleicht noch einmal lebend zu sehen. Gerald mahnt zwar zur Ruhe und es nicht zu übereilen, doch der Gedanke, ihn nicht mehr sprechen zu können, treibt mich an. Schließlich finde ich einen Flug für den 19. August, der im Rahmen meines für solche Fälle erweiterten Budgets liegt. Ich wähle ein Flex-Ticket, um notfalls länger bleiben zu können.

Der Flug verläuft problemlos. In Deutschland angekommen, stelle ich fest, dass es sich selbst im vierten Jahr meines neuen Lebens als Globetrotter noch immer sonderbar anfühlt, durch vertraute Gegenden zu kommen, die einst mein Lebensmittelpunkt waren, wo ich jetzt aber auf fremde Unterkünfte angewiesen bin. Für die erste Woche nimmt mich mein Sohn Alex auf, der mit seiner Freundin Nadine in Zeven zusammenlebt. Die Wohnung ist klein, eigentlich ohne Platz für einen weiteren Bewohner. Doch sie nehmen mich herzlich auf – und stellen mir sogar eines ihrer Autos zur Verfügung, damit ich zu meinem Onkel fahren kann, der auf dem rund 20 Kilometer entfernten Doosthof wohnt.

Gleich am Tag nach meiner Ankunft, dem 21. August, fahre ich mit Alex zu OHJ. Mein Onkel liegt fast reglos auf dem großen Ecksofa. Doch er nimmt wahr, dass wir da sind, und freut sich sichtlich. Seine Stimme ist leise und heiser – jedes Wort kostet ihn Anstrengung. Schon seit Jahren hat sein Kehlkopfkrebs ihm das Sprechen schwer gemacht. Nun wirkt er noch schwächer, langsamer. Aber OHJ ist klar und bei der Sache.

Dennoch, wir reden nicht viel und nach einer halben oder dreiviertel Stunde verabschieden wir uns wieder. Als Alex Abschied nimmt und ihm für alles dankt, was er für ihn getan hat, sagt OHJ mit brüchiger Stimme: „Vergesst mich nicht – und behaltet mich in guter Erinnerung.“

Auf der Rückfahrt nach Zeven schweigen Alex und ich lange. Worte wären fehl am Platz gewesen.

Fünf Tage kann ich OHJ noch besuchen. Am 26. August spüre ich, dass sich etwas verändert hat. Er atmet schwerer, wirkt abwesend, obwohl er wach ist. Auf meine Begrüßung reagiert er kaum. An diesem Tag bleibe ich vier Stunden bei ihm, gemeinsam mit Gerald – wie jeden dieser Tage. Dann verlasse ich das Haus, um einen Einkauf zu tätigen. Während ich in Ahlerstedt bei EDEKA an der Kasse bezahle, erreicht mich die Nachricht von Gerald, dass OHJ seine Augen für immer zugemacht hat. Sofort fahre ich zurück zum Doosthof, um Gerald zur Seite zu stehen.

OHJ hatte für sich eine Feuerbestattung bestimmt. Die Beisetzung der Urne legt Gerald für den 11. September fest. In einer sehr persönlichen Andacht nimmt die Neuapostolische Kirchengemeinde Doosthof am 28. September Abschied von ihrem fast hundertjährigen Gemeindemitglied Hans-Jürgen Rehberg.

Ich bin Gott unendlich dankbar, dass er mir die Gelegenheit gab, OHJ noch fünf Tage erleben zu dürfen. Es war jede Unterbrechung meiner Weltreise wert, Lebewohl zu sagen.

Gerald

Ich weiß nicht mehr genau, wann Gerald auf den Doosthof gezogen ist – doch es müssen über 40 Jahre her sein. Er wohnt in einer von OHJ vermieteten Wohnung, und im Laufe der Jahre entwickelte sich zwischen den beiden Männern eine Freundschaft, wo einer dem anderen half. OHJ hatte einen großen Garten und da ist Hilfe stets willkommen, besonders wenn im Sommer die Blaubeeren geerntet werden mussten. Gerald war stets ein zuverlässiger Helfer.

Als in den frühen 2000er-Jahren Tante Mariechen erkrankte und in einem Seniorenheim aufgenommen werden musste, war es der zuverlässige Gerald, der OHJ dreimal die Woche dorthin fuhr, damit sich die beiden sehen konnten. Ich kann mich nicht erinnern, OHJ jemals selbst habe Auto fahren sehen. Als sie 2009 in die Ewigkeit ging, begann er langsam abzubauen, und Geralds Aufgaben wuchsen von Jahr zu Jahr. Aus einem Gartenhelfer und Chauffeur wurde eine 24/7-Vollzeit-Pflegekraft, die keiner neuen Herausforderung aus dem Wege ging. Einen fremden Pfleger wollte OHJ nie akzeptieren. Gerald blieb trotz aller Anstrengungen, die diese Situation von ihm erforderten – und dafür hat er meinen tiefsten Respekt.

OHJ und ich

Als ich kleiner Junge war, kam es einmal dazu, dass meine Eltern Entlastung suchten. Außer ihren drei Söhnen – ich bin der mittlere – hatte meine Mutter in meinem Vater einen Mann, der als Unternehmer in der Elektrobranche und zusätzlich als Vorsteher einer Kirchengemeinde oft bis spät abends unterwegs war, während sie selbst einen Laden mit allen möglichen Elektrogeräten führte. Unsere Mutter kam an ihre Grenzen. Tante Mariechen, die Schwester meines Vaters, erklärte sich sofort bereit, sich um einen der Lausbuben zu kümmern: den Horst! Somit war ich sehr oft bei Onkel und Tante.

Da OHJ und Tante Mariechen kinderlos geblieben waren, freuten sie sich, dass auf diese Weise Kinderlachen ins Haus kam. Sie wohnten nur fünf Kilometer entfernt – kein Problem also, falls der Junge Heimweh bekommen sollte. Doch der Bengel kriegte kein Heimweh. Im Gegenteil: OHJ konnte mit Kindern umgehen wie kein anderer. Er las aus bunten Büchern vor, an die ich mich heute noch gut erinnere: "Der Struwwelpeter", "Die 10 kleinen Negerlein" und "Max und Moritz" von Wilhelm Busch. Er brachte mir bei, wie man "Mensch, ärgere dich nicht" spielt – und schummelt! 

OHJ als leidenschaftlicher Gärtner lehrte mich, wann Erbsen und Bohnen, Möhren und Kartoffeln reif sind. Er zeigte mir anhand der Blätter, Baumrinde oder Nadeln, wie man die verschiedenen Bäume wie Eichen, Buchen, Linden, Birken, Tannen, Fichten und Kiefern unterscheidet. Als diese Themen später in der Schule dran kamen, war ich König in der Klasse. Ich hatte Ahnung und wusste Bescheid.

Können Maulwürfe schwimmen? Nein? Doch! Als bei einem unserer Wald-und-Wiesen-Streifzüge so ein Löcherbohrer direkt vor uns aus der Erde kam, griff OHJ blitzschnell zu und setzte ihn in eine Viehtränke. Und siehe da – der kleine Maulwurf paddelte eine Runde mit der Nase über Wasser, als wäre es das Normalste der Welt. 

Wie lange ich als Kind insgesamt bei Onkel und Tante war, weiß ich heute nicht mehr. Aber ich war immer gerne dort – so gerne, dass ich manchmal gar nicht wieder nach Hause wollte. Im Gegensatz zu meinem Elternhaus hatte ich dort sogar mein eigenes Zimmer, in dem OHJ später, als ich größer wurde, sogar einen großen Tisch mit einer Märklin-Eisenbahn aufbaute.

Es gab aber auch Momente, die mir nicht so sehr gefielen. Das war, wenn zu Mittag oder Abendessen Tomaten, Rote Beete oder Rosenkohl auf meinem Teller landeten. Denn aufstehen durfte ich erst, wenn mein Teller leer gegessen war. Manchmal saß ich noch ziemlich lange da...

Wenn es Abend wurde und wir noch ein letztes Spiel spielten oder lasen, kam irgendwann und für mich stets unvorhersehbar regelmäßig die gleiche Frage:

„Was sind zehn Packen weniger neun Packen?“ (Dies kann man nur auf Deutsch verstehen)

„Och maaaan! Nur noch ein büschn … BIIITTTTE!!!“

Kindheitserinnerungen – und es gäbe noch so viel mehr zu erzählen!

Mein ganzes Leben hindurch war OHJ für mich da, als wäre ich tatsächlich sein Sohn gewesen. Ich vermisse seine verständnisvolle und großzügige Art.

16. Oktober 2021 – Verabschiedung für die Weltreise


Als ich mich auf meine Weltreise begeben habe, war es mein größtes Anliegen, mich von meiner Mutter und OHJ gebührend zu verabschieden – in dem Bewusstsein, dass es vielleicht das letzte Mal sein könnte. Es war der 16. Oktober 2021, als ich mein Abenteuer begann: zu Fuß auf dem Jakobsweg, mitten im Corona-Lockdown, mit ungewisser Zukunft. 

Mein erster Stopp an diesem ersten Reisetag war auf dem Doosthof – bei OHJ. Da habe ich ihm persönlich Lebewohl gesagt – und dann gab es glücklicherweise doch noch ein paar Reiseunterbrechungen, bei denen ich mit ihm jedes Mal wieder zusammen sein konnte.

Gerald, OHJ und ich im April 2023

Hans-Jürgen Rehberg – Eine Persönlichkeit

Hans-Jürgen Albert Walter Rehberg wurde am 11. April 1929 in Hamburg geboren. Als er sechs Jahre alt war, wurde sein Vater – ein politisch aktiver Kommunist – von den Nationalsozialisten verhaftet. Die Familie sah ihn nie wieder. Seine Mutter blieb mit sechs oder sieben Kindern zurück und konnte sie nicht alle ernähren. So kam Hans-Jürgen für vier Jahre ins Waisenhaus nach Wilferdingen – eine harte Schule des Lebens. Ihm wurde früh die große Verantwortung aufgebürdet, den großen Garten in Schuss zu halten und für den nötigen Ertrag zu sorgen. Hinzu kam das Anlernen seines Nachfolgers, bevor er die Einrichtung wieder verlassen würde. Glücklicherweise stellte sich heraus, dass Hans-Jürgen diese Aufgabe mochte und auch zur Zufriedenheit des Personals ausführte. Obwohl er oft vom Waisenhaus erzählte, betonte er auch jedes Mal, dass es für ihn keine schöne Zeit war. Doch sie war prägend für den Verlauf seines Lebens.

Nach dem Krieg kehrte er ins zerbombte Hamburg zurück, lernte Not und Hunger kennen – und das Hamstern. Eine Geschichte erzählte er immer wieder: Als Zehnjähriger schmuggelte er sich auf einen Elbdampfer, um im Alten Land ein paar Lebensmittel zu erbetteln. Man schenkte ihm unter anderem ein großes Glas Sirup. Doch bei der Rückkehr in die Stadt hielten ihn Kontrolleure auf und wollten das Glas beschlagnahmen. Hans-Jürgen wusste, dass sie den Sirup selbst mit nach Hause nehmen würden. Es herrschte Anarchie! "Nie im Leben kriegt ihr meinen Sirup!!!" schwor er sich im Stillen. Also setzte er sich trotzig hin und aß den Sirup eigenhändig auf – bis ihm übel wurde. Diese Episode erzählte er meist mit einem verschmitzten Lächeln. Sie steht für seine Entschlossenheit, sich nicht beugen zu lassen. Derartige Erlebnisse haben ihn geformt und zu einer Respektsperson mit feinem Empfinden für Recht und Gerechtigkeit gemacht.

Als junger Mann verließ er Hamburg, das ihm keine Arbeit bot und ging aufs Land. So kam er zum Doosthof und heuerte als Melker auf dem Bauernhof von Meyer an. Meyer war der Nachbarhof zum Hof der Familie Bargsten, wo er Mariechen kennen und lieben lernte. Mariechen kommt aus einer großen Familie und hat sieben Geschwister. Einer davon ist Klaus. Und Klaus war zu jener Zeit in Karlsruhe in Süddeutschland, um die Meisterschule zu besuchen. Neben der Meisterschule hat dieser Klaus offenbar noch Zeit für den Heiratsmarkt gehabt und sich eine heiße Schnitte geangelt, die Melitta. Sie brachte er als seine Verlobte mit nach Hause. So nahm das Wunderbare am 18. April 1954 seinen Lauf: eine Doppelhochzeit auf dem Doosthof. Hans-Jürgen Rehberg mit Mariechen Bargsten und Klaus Bargsten mit Melitta Schnier. Letztere sind mein Papa und meine Mama!

Mariechen & Hans-Jürgen – Melitta & Klaus

Möglicherweise hatte dieses Ereignis auch einen gewissen Einfluss auf das besondere Verhältnis zwischen OHJ und mir, wie auch zu meinen Brüdern Harald und Holger.

Hans-Jürgen war ehrgeizig, zielstrebig und hatte ein großes Herz. Schließlich fasste er den Entschluss, noch einmal die Schulbank zu drücken, studierte Verwaltungsrecht und trat nach seinem Examen in den Dienst der Stadt Stade. Dort erarbeitete er sich die Stellung des Amtsleiters des Sozial- und Jugendamtes. Sozial Schwache und solche, die unverschuldet in missliche Situationen kamen, lagen ihm am meisten am Herzen und er half oft mehr, als man vom Leiter eines Sozialamts hätte erwarten können. Nur diejenigen, die ihn zum eigenen Vorteil ausnutzen wollten, waren bei ihm ruck-zuck unten durch.

Zum Schluss

Diese Zeilen beruhen auf meinen Erinnerungen und ich könnte ein ganzes Buch über ihn schreiben. Vielleicht sieht die Erinnerung an OHJ bei anderen etwas anders aus – doch so habe ich OHJ erlebt und so möchte ich ihn in meinem Herzen behalten: als Mensch mit Charakter, Humor und großem Herzen, als Lehrer meiner Kindheit, und als stillen Begleiter meines Lebens.


*  *  *  *  *

Letzter Beitrag

Horsts Abschied von OHJ

  Abschied von Onkel Hans-Jürgen Am 2. August 2025 befinde ich mich in Arequipa, der zweitgrößten Stadt Perus, als Gerald mir per WhatsApp e...