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Freitag, 24. Dezember 2021

Pilgerunterbrechung fürs Ahrtal - Rückblick

Für über einen Monat, genauer gesagt vom 20. November bis zum 21. Dezember durfte ich mit meiner kleinen Kraft beim Aufräumen und Wiederaufbau im Ahrtal mithelfen, wo im Sommer 2021 eine verheerenden Flutwelle massiv zerstörte Gebäude und Infrastruktur zurückgelassen hatte. Dies war eine prägende Erfahrung. Im Blogartikel zuvor hatte ich schon einiges darüber berichtet und wie es dazu kam.

Die Region Ahrtal

Die Ahr ist ein Nebenfluß des Rheins und erstreckt sich über 85 km. Sie durchzieht die Eifel, ein Mittelgebirge vulkanischeen Ursprungs in Rheinland-Pfalz im Westen Deutschlands. Der Weinanbau an den ca. 300 m tiefen Talhängen, den Ortschaften mit zum Teil uralten geschichtsträchtigen Fachwerkhäusern und dazu der wunderschön geschwungene Verlauf des Flusses im Tal macht das Ahrtal zu einem interssanten und begehrten Urlaubs- und Erholungsgebiet.

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass mich diese Gegend nie wirklich interessiert hat und dass ich da zuvor nicht gewesen bin. Außer einmal als pubertierender Jüngling. Damals hatte ich aber noch schlimmere Flausen im Kopf als heute und für landschaftliche Reize kein Auge.

Meine Entscheidung zur Mithilfe

Bezogen auf meine Pilgerreise hätte ich den Fluß bei der Stadt Sinzig überqueren müssen. Deshalb habe ich mich in Köln mit der Frage auseinandergesetzt, ob - und wenn ja - wie ich dort helfen könnte.

Die Suchergebnisse im Internet förderten zwei Haupttreffer zutage: Helfer-Shuttle und Dachzeltnomaden. Ich habe mich schnell für den Helfer-Shuttle entschieden, da deren Camp meinem Weg am nächsten lag. Außerdem überzeugte mich die Webseite des Helfer-Shuttle, weil ich dort eine Art Infrastruktur erkennen konnte, die mich als Pilger in der Helferabsicht mit Tools (Arbeitsklamotten, Schaufeln, Akku-Schrauber, Shuttle-Service, Futter, etc.) am besten unterstützen würde.

So machte ich mich von Villip aus auf den Weg nach Grafschaft-Ringen, wo ich ein Camp vorfand, das mir die Sprachee verschlug. Dort waren Zelte und Pavillons aufgestellt für die Ausgabe von belegten Brötchen, Kuchen, Kaffee, Tee und kleine Süßigkeiten, für Arbeitskleidung jeder Größe, für Covid-Tests, und ein Gemeinschaftszelt so groß wie die Bierzelte vom Oktoberfest. Dann waren da Containerbüros für die Auftragskoordination. Die Scouts mit ihrer orangenen Warnweste, die die passenden Leute für die Aufträge zusammenstellten. Und die Shuttle-Busse, die unübersehbar ihren Dienst taten. Auch ein Merchandizing-Pavillon gab es mit Artikeln, wie Buttons, Caps, Hoodies, etc. mit welchen man seine Zugehörigkeit zum Helfer-Shuttle nach außen zeigen konnte. Wooow...

Helfen

An etlichen Projekten durfte ich mitmachen: Schlamm aus einem Weinberg beseitigen, Fenster zunageln, ein Containerdorf für Betroffene herrichten, Tapeten von Wänden entfernen, Lebensmittel im Bunker einlagern, die Küche eines Betroffenen aufbauen. Als Einzelner könnte man vielleicht meinen "Was kann ich schon bewirken, was bringt mein Einsatz hier?", wenn man an einem Tag zum Schlamm beseitigen eingesetzt wird und am nächsen Tag zum Tapeten entfernen und am dritten Tag wieder woanders. Ich glaube, dass jeder Handgriff ein Teil des Großen und Ganzen ist. Und dann zählt es!


Nach Außen sind diese Projekte sind gewiss der sichtbare Teil beim Helfen. Das Unsichtbare könnte in manchen Fällen vielleicht sogar wertvoller sein als das Sichtbare. Hier meine ich die Gespräche, in denen Sorgen und Nöte und gleichzeitig viel, viel Dankbarkeit zum Ausdruck kamen - das Fundament für neue Freundschaften. Nicht nur zwischen Betroffenen und Helfern, sondern auch unter anderen Helfern habe ich neue Freundschaften knüpfen können. Vielleicht klingt es etwas pathetisch, aber ich empfinde es wie ein Band, dass alle Beteiligten umschlingt: Miteinander und Füreinander da sein!

Das Ausmaß


Häuser, die wie Totenköpfe aussehen, weil die Außenfassaden bereits heruntergeschlagen sind und innen der Putz von den Wänden herunter ist und die Estrichböden herausgestemmt wurden, Fenster und Türen entfernt sind und kein Leben zu sehen ist. Straßen, die entweder unbefahrbar, verengt oder geschottert sind, jedoch ausschließlich dreckig sind. Autos, die aussehen, als kämen sie von einer Ralleycross-Piste. Insgesamt sind die Ortschaften wie ausgestorben, Ghost Towns. Immer noch nach fünf Monaten. Es sind nur einzelne Gebäude, in denen abends in den oberen Stockwerken Licht zu sehen ist. Das ist schon ziemlich bedrückend.

Zu Anfang haben ich bei meinen Einsätzen drei oder vier solcher Orte gesehen. Als ich aber bei Wolfram in Schuld für zwei ganze Wochen geblieben bin, war Materialbeschaffung erforderlich, sodass er mich zu OBI nach Rheinbach mitnahm. Dabei sind wir fast das ganz Tal durchfahren. Mir wurde fast schlecht, als ich sah, wie jeder Ort in dieser verheerenden Weise betroffen war. Es hörte überhaupt nicht auf. Ein Ort nach dem anderen... Der Schaden ist wirklich immens!

Ich werde immer mal wieder gefragt, wie es dort ist, weil man über die Medien kaum etwas darüber erfährt. Das einzige, das ich sagen kann ist: 

BITTE NEHMT EUCH DIE ZEIT, SETZT EUCH INS AUTO UND FAHRT HIN, SCHAUT ES EUCH AN, VERSCHAFFT EUCH EINEN EIGENEN EINDRUCK!!!

Auf YouTube gibt es massenhaft Videos, aber es mit eigene Augen gesehen zu haben ist etwas ganz anderes. Nochmal - und ich meine es wirklich so und hat nichts mit Schaulust oder Gaffen zu tun: Fahrt hin, schaut und sprecht mit den Menschen dort!

Überraschungen

"Unverhofft kommt oft" ist ein altes deutsches Sprichwort, dem ich bislang nicht besonders viel Bedeutung beigemessen habe. Was ich allerdings bei meiner Ahrtal-Hilfe alles erlebt habe, sprengt meine Vorstellungskraft. Hier nur zwei Beispiele von vielen ähnlicher Erfahrungen.

Wenn jemand länger als einen Tag im Ahrtal helfen möchte, braucht so jemand ein Dach überm Kopf. Vor allem in der kalten Jahreszeit. Ewald und Jutta, meine Gastgeber in Neuwied hatten mir ihr Gästezimmer angeboten. Sie waren froh, auf diese Weise einen Beitrag leisten zu können. Daher boten sie mir die Unterkunft auf unbegrenzte Zeit an. Aber nicht nur das. Von Neuwied zum Helfer-Shuttle ist es eine Enttfernung von rund 50 km. Nun sollte ich unbedingt den Zweitwagen benutzen, um dorthin zu kommen. Und wehe, wenn ich irgendwas bezahlen würde... Kommt überhaupt nicht infrage! Da dieser Zweitwagen ein E-Scooter ist, konnte ich noch nicht einmal auftanken.

Das andere Beispiel war in einer Apotheke, wo ich ein ABC-Pflaster für meinen Rücken kaufen wollte. Im Gespräch mit dem Apotheker kamen wir auf die Zustände im Ahrtal zu sprechen und er sah mein Shirt mit dem Aufdruck vom Helfer-Shuttle. Es war ein längeres Gespräch, weil der Apotheker wissen wollte, wie es als Helfer dort so ist. Als ich schließlich bezahlen wollte, sagte er "Ist schon erledigt!". Ich verstand nicht. Er meinte, das gehht auf seine Kappe und er sei dankbar dafür, mich kennengelernt zu haben... Was soll man dazu sagen???

Neue Freunde

Wie schon mehrfach angesprochen, freue ich mich riesig über fremde Menschen, die hierdurch in mein Leben getreten sind und Freunde wurden oder Freundschaften, die dadurch neuen Wind in die Segel bekommen haben: Wolfram, Ewald und Jutta, Thomas, Claudia, Elfi und Peter, André, Ulf, Markus, Heike I, Heike II, Olaf, Sandra. Auch wenn ich noch nicht weiß, wann ich euch wiedersehe - man sieht sich mindestens zweimal im Leben. Das Leben ist schön!!!

Jetzt wird's Weihnachten und ich habe mich entschlossen, meine Pilgerreise nach Weihnachten fortzusetzen. An welchem Tag genau? Sag ich noch nicht - Weihnachtsüberraschung. Oder für die, die mich schon etwas besser kennen: Ich plane, nicht mehr zu planen!!!

FROHE WEIHNACHTEN - FELIZ NAVIDAD - GLADE JUL - MERRY CHRISTMAS

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