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Dienstag, 15. Oktober 2024

Horsts 1-Zimmer-Appartment

ACHTUNG - Lange Geschichte. Plane genug Zeit zum Lesen ein 🕝

17. Juni 2024. Nun habe ich schon fast drei Monate lang Brasilien bereist. Ich war in Vitória, Porto Seguro, Itacaré, Salvador, Lençois und Chapada Diamantina, Palmas und Jalapão, Brasília, Ouro Preto, Rio de Janeiro, Angra dos Reis und Ilha Grande und befinde mich jetzt gerade in Paraty. Immer wieder hatte ich auf der Reise nach einem VW-Bus Ausschau gehalten. Warum wohl...?

Keine Extrawurst für Horst!

Was glaubst du, was passiert, wenn du auf dem Weg von - beispielsweise Brasilia nach Rio zum Busfahrer sagst „halte hier mal eben kurz an“ oder „fahr dort mal eben rein“, weil du aufregend schöne Landschaften siehst, die du dir anschauen willst oder sei es nur ein paar Fotos machen willst? Nichts passiert. Gar nichts! Keine Raktion. Denn der Reisebus ist wie ein Flugzeug ohne Flügel. Der Busfahrer sitzt vorne wie ein Pilot abgeschottet von seinen Passagieren in seinem Cockpit und kriegt nichts davon mit, was du sagst. Er hört kein Wort von dir. Da du das weißt, redest du natürlich auch nicht mit ihm und denkst dir nur, warum habe ich kein eigenes Fahrzeug, mit dem ich hinfahren könnte, wohin ICH will?‘ So erging es mir ja schon in Afrika, wo ich manche besondere Orte verpasst habe, weil mich niemand hingebracht hat, beziehungsweise ich kein Auto hatte. Ein weiteres wichtiges Argument ist mein Sohn Alex, den ich eingeladen habe, mich im Januar oder Februar 2025 ein Stück auf meiner Weltreise zu begleiten. Seit ich brasilianischen Boden betreten und gesehen habe, was für schöne VW-Bullis und in schier endloser Zahl hier herum fahren, habe ich beschlossen, mir ein solches Auto zuzulegen - wenn es denn finanziell und gesetzlich möglich wäre.

Was ist hier erlaubt?

Als ich mit Vitor traf, einen jungen Mann aus São Paulo, stellte sich heraus, dass er sich gut mit Zulassungsfragen von Kraftfahrzeugen auskannte. So habe ich ihn mit meinen Fragen gelöchert. Gemäß seinen Aussagen ist eine Zulassung für Ausländer nicht unmöglich, aber mit einigen bürokratischen Hürden verbunden. Ich hatte befürchtet, als Nichtbrasilianer kein Fahrzeug besitzen zu dürfen. Vitor erklärt mir, welche Bedingungen zu erfüllen sind, wenn man sich mit dem Verkäufer über den Kauf geeinigt hat. Man hält sich am besten an diese Reihenfolge:

  1. Persönliche Steuernummer - Das ist die CADASTRO DE PESSOAS FÍSICAS oder kurz CPF. Diese habe ich von der Behörde 'Receita Federal' kostenlos bekommen. Man kann sie auch für 7,- Reais über Postämter beantragen. Ohne CPF geht in Brasilien fast gar nichts!!! Selbst bei einem ganz normalen Einkauf werde ich jedesmal nach meiner CPF gefragt, wobei es dort auch ohne geht.
  2. Adresse - Ohne Adressangabe ist eine Eigentumsüberschreibung nicht möglich. Als Ausländer habe ich mehrere Freunde gefunden, die damit einverstanden sind, wenn ich ihre Adresse angebe. Die ist kein Kavaliersdelikt, sondern gängige Praxis in Brasilien. Deshalb sind Freunde auch gern dazu bereit. Allerdings ist es von Vorteil, eine Adresse in dem Bundesstaat zu haben, wo das Fahrzeug angemeldet ist.
  3. Lasten - Bei DETRAN lässt man das Fahrzeug überprüfen, ob die Steuern bezahlt sind (jeweils für ein Jahr), ob es frei von Besitzansprüchen anderer und Strafen oder anderer Probleme ist. Falls dies nicht der Fall ist, sollte man tunlichst die Finger von dem Fahrzeug lassen. Man kann dies auch selbst online machen. Allerdings ist diese DETRAN-Website nur innerhalb Brasiliens und nich im Ausland erreichbar.
  4. Verkehrstüchtigkeitsnachweis - Hier geht es um ein paar Aspekte technischer Sicherheit, allerdings in deutlich anderem Maßstab als in Deutschland. Für diese Prüfung gibt es eine Menge autorisierter Unternehmen. Um diese Prüfstellen zu finden, googelt man "vistoria transfrerencia".
  5. Notarielle Eigentumsüberschreibung - Bei diesem Vorgang müssen in Brasilien der Vorbesitzer und der Nachbesitzer, also der Verkäufer und der Käufer beide anwesend sein. Damit schiebt die Regierung seit ein paar Jahren der gängigen Praxis gestohlene Autos zu verkaufen einen Riegel vor. Ob der Kaufpreis vor oder nach dem Notar bezahlte wird, sollte man mit dem Verkäufer klären.
  6. Registrierungszertifikat - Mit allen Nachweisen ausgestattet bekommt man bei einem Dispatcher von DETRAN das Zertifikat 'CERTIFICADO DE REGISTRO DE VEICULO'.

Yeah, das macht mir Mut - es sollte zu schaffen sein!!! 

Da ich von der Forderung nach der CPF schon lange wusste, hatte ich die Nummer schon beantragt, als ich noch mit der vagen Idee, einen Bulli zu kaufen, schwanger ging. Ebenfalls hatte mir die Vermieterin in Vitória ihre Adresse für alle Eventualitäten zur Verfügung gestellt. Damit waren für mich die Punkte (1) und (2) dieser Liste bereits abgehakt.

Meine CPF in Brasilien

Fortan werden die Online-Marktplätze täglich studiert. Dort werden einige bereits ausgebaute Vans angeboten. Die Preise bewegen sich von 30.000 Reais aufwärts. Nackte VW Busse, d.h. Als Lieferwagen und 9-Sitzer sind schon ab 7.000 Reais zu haben. Mehrere Besichtigungen überzeugen mich, das billige Fahrzeuge für meinen (deutschen) Geschmack nicht verkehrstauglich sind. Als Kompromiss zwischen der Möglichkeit meines Bankrotts und technischem Zustand des Fahrzeugs lege ich mein Investitionslimit auf 45.000 Reais (rund EUR 7.500,-) für die Anschaffung und möglichen Reparaturen, bzw. Upgrades fest. Damit würde ich neun bis zwölf Monate durch Südamerika kreuzen, was für diese Zeit einem Unterkunftspreis von EUR 28,- pro Nacht entspricht, plus die Freiheit hinzufahren, wo ich es gerade möchte, ohne einen sturen Busfahrer fragen zu müssen. Das ist zwar das Doppelte der Kosten für Herbergsunterkünfte, die im Schnitt bei EUR 17,- liegen, doch das ist mir diese Freiheit wert. Bestenfalls bekomme ich den Wagen am Ende auch wieder verkauft.

BUH-562

Die Anzeige, die ich auf Facebook Marketplace entdecke, klingt vielversprechend. Baujahr 1994, gute Ausstattung und das Ganze für 30.000 Reais – günstiger als viele andere Angebote. Vielleicht lässt sich der Preis sogar noch etwas verhandeln. Ich habe ein gutes Gefühl. Aber mir ist auch klar, dass bei einem Auto, das 30 Jahre auf dem Buckel hat, sehr wahrscheinlich Reparaturen erforderlich sein würden. Irgendwas ist ja immer!

Was wir in Deutschland verliebt 'VW Bulli' nennen, kennt man in Brasilien als 'VW Kombi'. Das sind VW-Modelle, die in Brasilien ausschließlich als T1,5 mit kleinen Fenstern mit Klapptüren und als T2 mit Langfenstern, Schiebetür und höherem Dach vorkommen und bis 2013 auch hier im Lande gefertigt wurden. Spätere Baureihen, die wir in Deutschland kennen, wie T3 und aufwärts, die gibt es hier überhaupt nicht. 

Diese Anzeige hier war überschrieben mit 'VW Kombi Motorhome' und die Fotos entsprechen genau dem, was ich mir vorgestellt hatte. Als ich diese Anzeige sehe, beginnt mein Herz schneller zu schlagen: der Ausbau zum Wohnmobil war genau richtig: ausklappbare Liegefläche mit zugeschnittenen Polstern, etwas Stauraum für genug Bier von Laden zu Laden, mit Platz für Lebensmittel und auch für meinen Rucksack, eine zweiflammige Kochstelle, 300W-Solarpanel, Bluetooth-Musikanlage, usw. usw. Ich will den Wagen sehen und eine Probefahrt damit zu machen - und hoffe, dass er nicht vorher verkauft wird. 

Nachdem ich mein Interesse angemeldet hatte, bekomme kurze Zeit später einen Anruf. Verbal konnte ich gerade so klarmachen, dass portugiesisch nicht meine Muttersprache ist und die Kommunikation in Textform mit Hilfe des Google-Übersetzers leichter zu handhaben sei.

Arnaldo – so heißt der der Verkäufer – teilt mit, ich könne den Kombi in Pindamonhangaba anschauen. Wie bitte, in wo.....? Okay, da Google-Maps sogar den Doosthof kennt, dürfte Pinda-sonst-was sicher auch auffindbar sein. Nach deutscher Wahrnehmung ist das Nest mit seinen rund 150.000 Einwohnern bereits eine Großstadt. Von Paraty komme ich mit zweimal umsteigen in ratternden und scheppernden Regionalbussen über Guaratinguetá nach Pindamonhangaba (was ich wie die Locals ab hier nur noch 'Pinda' nennen werde). Die letzten zwei Kilometer muss ich marschieren, denn von Arnaldo kommt keine Reaktion, als ich ihn per WhatApp über meine Ankunft informiere.

Doch meine oberste Priorität hat die Fahrtüchtigkeit des Wagens, denn damit ich will ich ganz Südamerika bereisen.

Am Nachmittag des 19. Juni 2024 stehe ich vor dem VW-Kastenwagen mit dem Kennzeichen BUH-562. Arnoldo schwärmt von dem Wagen. Er hatte ihn selbst ausgebaut und war damit schon in Uruguay gewesen. Er zeigt mir alle installierten Funktionen: den Kühlschrank, den zweiflammigen Gaskocher, die Wasserpumpe für Spüle und Freifelddusche. Er aktiviert alle fünf Lüfter (in Brasilien soll es angeblich oft sehr warm sein 🥵💦). Netzsteckdosen, einige die 110V, andere die 230V spendieren. USB-Ladebuchsen finden sich in so gut wie jeder Ecke. Die Bluetooth-Anlage schmettert wie verrückt, als er mit dem Handy verbunden ist. Sogar ein Fernseher ist da. Die Solarkollektoren auf dem Dach versorgt das ganze System mit Strom. Alles funktioniert. Ich bin schockverliebt 😍. 

Alles ist wie beschrieben und irgendwie noch schöner, noch besser. Arnaldo und seine Frau Vera sind mir schnell sympathisch und ich denke mir, denen würde ich den Wagen gern abkaufen, sofern auch technisch alles in Ordnung ist. 

Die Vorderreifen haben kaum Profil und der Ersatzreifen ist so blank wie eine Bowlingkugel – müssen auf jeden Fall die Neue ersetzt werden.

Dann kommt die Probefahrt. Uuups... da klingt irgendwas nicht gut. Das anfänglich sonore Schnurren des Motors verändert sich bei der Fahrt in das knattern eines Hubschraubers. Ob wir gleich abheben? Ich hab doch (noch) keine Lizenz für Hubschrauber!!! Beim Fahren klingt es, als würde hinten irgend ein Blechteil am Fahrwerk schleifen – je schneller, desto lauter. Nein, das gefällt mir ganz und gar nicht. Unzufrieden bin ich auch mit der Lenkung. Es braucht eine 90-Grad-Umdrehung des Lenkrades, bis eine Richtungsänderung bei den Vorderreifen ankommt. Die Handbremse hat so gut wie gar keinen Effekt. Scheibenhonig! So will ich das Fahrzeug aber nicht haben. Aber im Unterbewusstsein passiert etwas anderes. Es versucht sich trotz allem mit dem ungenügenden Zustand des Wagens zu arrangieren. Es ist eine innere Kraft da, die diesen Bulli unbedingt haben will. 

Dann haue ich eine meiner wichtigsten Fragen raus: "wie könnte ich den Wagen auf meinen Namen registrieren lassen?" frage ich ihn. 

"Das geht nicht!" sagt Arnaldo.

Ich: "Hä...was geht nicht?" 

Er: "Der Kombi ist auch nicht auf meinen Namen zugelassen, und auch nicht auf den Verkäufer, von dem ich ihn habe, sondern auf irgend jemand davor."

"WHAAAT?????" entfährt es mir. 

"Hier in Brasilien ist das kein Problem, solange die Jahresgebühr für die Nutzungslizenz und die Steuer beim Dispatcher bezahlt ist. Das müsstest du allerdings noch tun für den Rest des Jahres 2024. Ich habe für dieses Jahr noch nicht bezahlt." 

"Soso... und wieviel wird das kosten?" 

"Hundert oder Hundertfünfzig Reais" bekomme ich zur Antwort.

"Und wieviel muss ich für die Versicherung einkalkulieren?"

Arnaldo beginnt zu lachen, "hier in Brasilien versichern die Leute nur Neuwagen gegen Diebstahl. Niemand sonst hat eine Versicherung. Bei einem Unfall müssen die Unfallgegener sind untereinander einigen, wer was bezahlt. Meistens zahlt jeder für seinen eigenen Wagen. Wir sind deshalb auch immer auf der Hut, dass wir gar nicht erst in einen Unfall verwickelt werden. Das ist kritisch für Fußgänger auf der Straße. Die müssen auf sich selbst aufpassen, weil Autofahrer eher mit dem Blick im Rückspiegel sind, dass hinten niemand auffährt, als dass sie auf Fußgänger achten. " Ich brech zusammen, was für eine Logik...!

Das ist wirklich eine andere Welt hier. "Wer bezahlt denn, WENN eine Person zu Schaden kommt?", frage ich interessiert.

"Medizinische Behandlungen bezahlt der Staat. Dafür braucht man in Brasilien keine Versicherung".

Ich bin überrascht, geschockt, beeindruckt und erleichtert – alles gleichzeitig. Mir wird immer klarer, wie anders die Uhren hier ticken, als in good old Germany. Und ich frage mich, ob ich mich auf Dauer mit dem brasilianischen Lifestyle arrangieren könnte. Eine Stimme tief unten im Bauch schreit "klar, Mann! Wenn nicht du, wer dann?" Oh man, ich und meine dreizehn inneren Anteile...

Dann einigen wir uns darauf, den Wagen dem Mechaniker seines Vertrauens vorzustellen, denn der Motor sei neu und habe noch Garantie – lass uns dessen fachlichen Rat einholen. Der wird ganz sicher das Hubschraubergeräusch beseitigen. Von der Beschreibung ‚neuer Motor’ und dessen Optik habe ich allerdings eine andere Vorstellung, als das, was ich hinter der Heckklappe gesehen habe. Aber ich sage nichts und denke, ich will erst die Meinung des Mechanikers über Motor, Hubschrauber, Lenkung und Handbremse hören. Vorher werde ich keine endgültige Entscheidung treffen.

Also fahren wir zu Barbosa, dem Mechaniker. Barbosa schlägt vor, den Motor auf eigene Rechnung noch einmal auseinander zu nehmen, zu untersuchen, die Kurbelwelle auf Spiel zu prüfen und gegebenenfalls zu reparieren, da der Motor von ihm selbst vor Monaten ausgewechselt wurde. Lenkung und Handbremse könne er nur mit einer bezahlten Reparatur oder Instandsetzung erledigen. 

Zurück bei Arnoldo gibt es noch einiges zu klären. In der (abgelaufenen) Lizenz steht noch immer der Name desjenigen, von dem Arnaldo oder ein anderer Vorbesitzer den Wagen gekauft hat. Ein José Irgendwer. Als Besitzer musst du nur für eine gültige Lizenzierung sorgen, mit der die Steuern bezahlt werden und die immer für ein Jahr ausgestellt wird und dann wieder erneuert werden muss. Das macht ein Dispatcher. Wir fahren also zum Dispatcher, der - natürlich auch kein Englisch spricht. Die Lizenzierung für diesen Bulli ist mit Ende 2023 abgelaufen. Aber egal, wir wurschteln uns durch und der Dispatcher, der eine Frau ist, zeigt sich sehr hilfsbereit. Sie prüft anhand der Daten in DETRAN, der Datenbank der Verkehrsbehörde in Brasilien, ob das Fahrzeug mit Bußgeldern belastet ist oder andere wichtige Informationen vorliegen. Das ist nicht der Fall und der Lizenzierung steht nichts im Wege. Dass ich als Ausländer die Lizenzierung beantrage, spielt offenbar keine Rolle. Ich werde auch nicht nach einem Wohnsitz gefragt. Es kommt mir fast wie Fahrrad fahren vor…

Dann sprechen wir noch über meine Reisepläne in Südamerika und den bedenklichen Zustand des Wagens. Ganz von sich aus schlägt er vor, den Preis auf 25.000 Reais zu reduzieren, damit ich von der Differenz der 5.000 Reais die erforderlichen Reparaturen bezahlen könne. Ich kämpfe mit mir, auch wegen des Zulassungspapiers – doch meine Bauchstimme gewinnt. So schlage ich ein und bezahle den Kaufpreis, der umgerechnet EUR 4.200,- beträgt. Ich hab Vertrauen in diesen Menschen gefasst und freue mich, den Deal mit ihm machen zu können. Arnoldo meint, ich solle am Freitag früh zur Werkstatt Barbosa zu fahren und mit dem Meister zu reden. Möglicherweise räumt er mir Priorität ein und bekommt das Auto vielleicht vor dem Wochenende fertig.

Ich trenne mich freundschaftlich von Arnaldo und seiner liebenswerten Frau Vera, die mich vorzüglich mit brasilianischen Speisen bewirtete, solange ich hier war. Bis zur finalen Klärung aller Fragen habe ich einige Tage in deren Gästezimmer und am Tisch mit ihnen verbracht. Bei den dabei geführten Gesprächen haben wir manche schöne Gemeinsamkeit entdeckt, die uns freundschaftlich verbunden haben. 

Am nächsten Tag, den 20.06.2024, bin ich um 9:30 Uhr beim 12 km entfernten Mechanikermeister Alexander Barbosa, der ebenfalls ausgezeichnet Portugiesisch, aber keine andere Sprache spricht – mein Google-Übersetzer bekommt Hochkonjunktur – erklärte mir dieser, dass der Motor ausgebaut werden müsse, um das Kurbelwellenspiel mit dünnen Distanzscheiben zu beseitigen. Außerdem müssten die Lager der hinteren Räder ausgetauscht werden, da diese schlackern. Das gehört aber nicht zur Garantie, nur der Motor... "und der Hubschrauber" ergänze ich. Aber er schüttelt den Kopf. Man könne nicht sagen, wo genau der Hubschrauber steckt. Ich bereite mich auf weitere Diskussionen vor. Meister Barbosa stand im Wort bei anderen Kunden und vertröstete mich auf Montag. Am Montag, den 24.06.2024 dann, würde er mit den Reparaturen anfangen. Ich rechne: da es heute aber erst Donnerstag ist, werden mir mit dem Wochenende drei Tage verloren gehen. Wenn ich sonst auch immer ganz entspannt bin, wenn Dinge länger dauern als erwartet, wird es jetzt eng für mich, da mein Visum für Brasilien am 02.07.2024 ausläuft und ich das Land bis dahin verlassen haben muss. Doch es ist wie so oft im Leben: nicht zu ändern.

1-Zimmer-Appartment

So campiere ich von Freitag bis Montag mit dem VW-Bulli auf dem Außenparkplatz von Barbosas Werkstatt. Das ist eine gute Gelegenheit, meinen Bulli besser kennenzulernen und mich darin einzurichten. Dabei stelle ich fest, dass der Wagen trotz seines Alters (genau 30 Jahre) in einem recht guten Zustand ist. Einige Kleinigkeiten wie der Fensterheber links und die Elektrik sind sicher leicht zu beheben. Ebenso stelle ich fest, dass die festen Polster zum Sitzen und Schlafen bequemer sind, als zunächst angenommen. In der Küche fehlt es noch an Geräten und Gas für den Morgenkaffee, aber der Kühlschrank funktioniert einwandfrei und das Bier am Abend ist schön kalt. Die Dusche im Freien ist eine interessante Installation. Eine Pumpe, die an der Spüle eingeschaltet wird, aber erst anläuft, wenn ein zweiter Schalter am Duschschlauch hinter der geöffneten Heckklappe betätigt wird. Die Prüfung auf Pumpe und Brause verschiebe ich auf später, weil der Parkplatz, auf dem ich stehe, direkt an einer Straße liegt. Richtig gut funktioniert auch die Bluetooth-Anlage – voller Sound dröhnt aus den Lautsprechern, wenn ich die Musik laufen lasse. Das alles macht den Bulli zu meinem neuen Zuhause.

Wer hätte gedacht, dass die Nächte in Brasilien so lausig kalt sein können, dass einem die Knochen aneinander klötern und man davon nachts aufwacht. Aber ja, es ist Winter und die Zeit der Wintersonnenwende auf der Südhalbkugel der Erde. Dafür müssten 12 Grad in der Nacht doch eigentlich akzeptabel sein, oder? Tagsüber geht es dann wieder rauf bis 26 Grad. Das sind meine ersten Erfahrungen mit meinem 1-Zimmer-Appartment. Ich finde es eben auch schön, mich mal wieder in meinen Schlafsack hinein zu kuscheln. Zu diesen Erfahrungen gehört dann aber auch meine unbedachte Parkposition, wo ich das Auto mit seinen Solarkollektoren sauber im Schatten geparkt hatte und nach nicht einmal 24 Stunden der Saft komplett verbraucht ist. Wenn Kühlschrank und Innenbeleuchtung aktiv sind und das Handy permanent aufgeladen wird – das fordert Tribut. Man lernt nicht aus!

Schön im Schatten geparkt

Den Freitagnachmittag und Samstag widme ich meiner Entdeckungstour in dieser unbekannten Stadt. (Oder kanntest DU sie…?) Wir erinnern uns, sie heißt Pindamonhangaba. Komm, sprich es gerne noch ein oder zweimal aus. Gaaaanz langsam… ja genau so, ja! Du machst es schon sehr gut. Ich wusste, du kannst es. Noch ein bisschen üben und dann klappt das ganz flüssig und auswendig, du wirst schon sehen.

Ein Straßenmarkt bietet frisches Obst und Gemüse an, und lokale Handwerker stellen stolz ihre Produkte zum Verkauf aus. Der Bahnhof ist teilweise stillgelegt und die alten Gleise zeugen von bewegten Zeiten. Ich staune über die Schranken an der neuen und in Betrieb befindlichen Linie, sie sind aus Holz gefertigt.

Pinda ist möglicherweise die aufregendste Stadt Brasiliens. Was mir auffiel, waren die ausgesprochen freundlichen und hilfsbereiten Menschen. Nach einer relativ kurzen „Aufwärmphase“ gegenseitiger Neugier und Kennenlernen erlebe ich hier eine unglaubliche Großzügigkeit. Von völlig fremden Menschen, werde ich in einer Cafeteria zum Mittagessen eingeladen, weil sie von den Erzählungen meiner Reise fasziniert sind und mich mit Tausend Fragen löchern. Von ihnen erfahre ich, dass der Name der Stadt 'Pindamonhangaba' ein Wort des indigenen Volkes ist, das hier vor der Eroberung durch die Portugiesen lebte. Es bedeutet in ihrer Sprache ‚Haken, mit dem man Fische fängt‘ – auf gut deutsch: ‚Angelhaken‘.

Sowohl Arnoldo, der Verkäufer, und Alex Barbosa, der Chefmechaniker, mit ihren Familien lassen mich als Gast an ihren Tischen teilhaben - es ist unglaublich! 

Am Samstag stelle ich über eine Google-Suche fest, dass es in dieser Stadt sogar eine Neuapostolische Gemeinde gibt. Denn die sind in diesem großen und doch sehr gläubigen Land sehr sparsam verteilt. Google Maps zeigt mir, dass sie nur 9 km von meinem Standort entfernt liegt. Für die Fußgängerroute berechnet Google zwei Stunden und zehn Minuten Reisezeit. Kein Thema für mich als emeritierter Pilger.

Dann wird es Sonntag. Wir schreiben den 23. Juni 2024. Ich wache um 7.30 Uhr auf, esse einen Teller Cornflakes mit Banane und Milch, ziehe meine Sandalen an und mache mich um 8.10 Uhr auf den Weg. Nach 1,5 Stunden zu Fuß erreiche ich die Gemeinde. Was hat Google nur für sonderbare Algorithmen? Der Gottesdienst, der um 9.00 Uhr angesetzt ist, tatsächlich aber erst um 9.10 Uhr beginnt, wird von Apostel Reinaldo Milczuk vor insgesamt neun Zuhörern durchgeführt. Anschließend bringt mich einer der Glaubensbrüder mit seinem Auto wieder zurück.

Apostel R. Milczuk (3. v.l.)

Kirche in einer umgebauten Garage mit 16 Sitzplätzen 

Der Montag ist dem Bulli gewidmet. Alex baut den Motor aus und setzt Distanzscheiben auf die Kurbelwelle, wodurch das Laufgeräusch reduziert werden soll. Es ist interessant, dabei zuzuschauen. Ich lerne viel über die Technik von vor über 50 Jahren. Die Seile der Handbremse werden neu gespannt und die Lenkung eingestellt. Ich selbst kümmere mich um den Austausch des Fensterhebers fahrerseitig, weil die Kurbel fehlte und der Antriebszapfen ausgenudelt war. Irgendwelche Reparaturen an der Elektrik hat der Meister auch ausgeführt. Die Arbeiten nehmen letztlich mehr Zeit in Anspruch. Auch am Dienstag wird noch am Bulli herum gewerkelt. Schließlich steht der Wagen am Dienstagabend fahrbereit auf dem Hof. Eine Nacht noch hier, und morgen geht es damit auf Reisen.


Camping in Barbosas Werkstatt

Junge Freundschaft…

Gut ausgeschlafen starte ich dann am 25. Juni 2024 gegen 8.00 Uhr in der Früh den Motor. Das Ziel für heute ist Blumenau, die angeblich deutscheste Stadt in Brasilien, weil hier das größte Oktoberfest außerhalb Deutschlands stattfindet.. Google-Maps berechnet mir die Strecke mit 10 Stunden. Ich denke mir nur, dass Google noch nicht mitbekommen hat, dass ich in einem dreißig Jahre alten Auto sitze. Ich schlage großzügig drei Stunden oben drauf. Wenn ich um 21 Uhr dort bin, ist alles gut. Ich hab's ja nicht eilig. Einzig mein Visum läuft am 2. Juli, also in sieben Tagen ab. Doch bis dahin bin ich über alle Berge, wie man in Deutschland so sagt.

Fröhlich, frei und unbeschwert sitze ich in meinem Traumauto. Alter, was geht die Lenkung schwer. So wie ich es eigentlich haben wollte, hat Barbosa die die Lenkung nicht hingekriegt. Auch das Lenkspiel ist nach wenigen Kurven bei dem vorherigen Zustand. Ich überlege bei mir, ob ich umdrehen sollte und auf eine bessere Reparatur bestehen. So bin ich damit noch unzufrieden. Jede Kreuzung hat einen Kreisel und Kreuzungen gibt es hier mehr als genug. Kurven fahren ist Schwerarbeit. Dies ist ja nicht der erste Bulli in meinem Leben. Drei Stück hatte ich schon. Dies ist mein Vierter. Daher weiß ich genau, dass die Lenkung nicht so schwer gehen sollte. Aber ich bin ja kein Gänseblümchen. Ein paar Muckies sind mir ja noch geblieben. So kriege ich noch jede Kurve und gewöhne mich auch etwas daran. Dann bin ich auf der Autobahn. 80 km/h - mehr ist nicht drin. Braucht es aber auch nicht. Ich hab doch Zeit. Eile macht nur unnötig alt. Darum bin ich auch so frisch. Die Lastwagen rauschen einer nach dem anderen links an mir vorbei. 

…voll auf die Probe gestellt!

Doch was ist das? Ein leichter, fast unmerklicher Ruck auf der Fahrt. Dann, nach zwei Kilomentern noch einmal und nochmal. Mich beschleicht ein unbehagliches Gefühl. So ganz kleine Aussetzer macht der Motor hin und wieder, und die Abstände werden kürzer. Hmmm… soll mir das irgendwie zu denken geben? Da - wieder… und wieder, jetzt fast schon regelmäßig. Mein Kopf hat sich in Windeseile eine Kinoleinwand verwandelt und spielt den nervenzerreißenden Blockbuster: "Fern der Heimat - Bulli gegen Horst in Südamerika". Weit und breit keine Autowerkstatt. Nach 65 km wird der Krimi real. Bulli hat beschlossen, nicht mehr weiter zu fahren und stellt damit die junge Freundschaft auf eine harte Probe.

Da stehe ich mit meinem Glück auf der Standspur des brasilianischen Highways SP-070 und weiß mir keinen Rat. Ein leicht bescheidenes Gefühl macht sich breit in meiner Brust. Doch nur nach zwanzig Minuten hält ein  Streifenwagen der Polizei und fragt nach meinem Problem. "Wir rufen den Pannendienst" sagt einer der beiden. Weitere zehn Minuten später stoppt ein VW-Polo mit einer Dame, die sich als Pannendienst vorstellt. Da sie nichts weiter ausrichten kann, ruft sie einen Kollegen, der weitere zehn Minuten später mit seinem Pick-up erscheint und meinen Bulli in wenigen Minuten aufgeladen hat. Wo geht's denn jetzt hin, will ich wissen. Runter von der Autobahn, ist die Antwort. Und wirklich, die nächsten Abfahrt ist unsere und dann geht's weiter bis zur nächsten Tankstelle. Dort werde ich abgeladen, auch wenn ich nicht weiß, wo ich bin und wo ich am besten hin sollte. Als ich bezahlen will, lacht der freundliche Fahrer und sagt, das kostet nichts, es wird mit den Mautgebühren bezahlt. Cool.

Bevor ich überhaupt zum Nachdenken komme, steht ein Mann neben mir und drückt mir seine Visitenkarte in die Hand. Er habe einen Abschleppdienst. Wenn ich wollte, könne er in fünf Minuten mit seinem Abschleppwagen hier sein. Ich denke nicht lange nach und sage zu. Wahrscheinlich wurde er vom Autobahn-Abschlepper informiert. Oder steht der den ganzen Tag an einer abgelegenen Tanke und wartet, dass ein Deutscher mit seinem Bulli abgeholt werden muss...? Kann ich mir nicht vorstellen. Ich denke, man kennt sich und hilft sich gegenseitig im Geschäft. 

Und schon steht Bulli festgezurrt auf Pick-up Nummer zwei. Ganz ehrlich, so ein bisschen ausgeliefert fühle ich mich schon. Man kann mich jetzt hinfahren, wohin man will. Ich kenne mich hier nicht aus und verstehe kaum etwas, wenn sich Brasilianer untereinander unterhalten. Die Fahrt geht in die nächstgelegene Stadt. Anhand von Google-Maps sehe ich, dass wir in Jacaraeí sind. An der Rückseite einer Sportplatztribüne ist die Fahrt zu Ende und Bulli wird abgeladen. Aber eine Werkstatt sehe ich weit und breit nicht, nichtmal ein Hinweisschild, nur eine Wohnstraße und die Tribüne hinten.

Während des Abladevorgangs erscheint ein groß gewachsener Mann im einer blauen Mechaniker-Latzhose. Hoppla, da muss doch irgendwo eine Werkstatt sein. Der Mann begrüßt mich freundlich und stellt sich als Mário vor. Per Google-Übersetzer schildere ich meine Situation und den Zustand des Bullis.

Lebendes Inventar 

Es ist noch immer den 25. Juni 2024 vormittags. Mário ist ein überaus freundlicher Mensch und ich fühle mich in seiner Umgebung wohl. Es scheint, als habe er eine junge Frau als Mechanikerin in der Ausbildung, die ebenfalls mit einer blauen Latzhose und Sicherheitsschuhen stets bei ihm ist, ihn bei allen Arbeiten unterstützt, während er als Chef ihr unablässig irgendwas erklärt. Nachdem Bulli so geparkt ist, dass er einigermaßen gerade steht, fange ich an, mir ein Mittagessen zuzubereiten.


Später, als ich gegessen habe, gehe ich in die Werkstatt, die sich hinter dem unauffälligen Tor befindet und schaue den beiden ein wenig bei ihrer Arbeit zu. Mário liegt auf einem Stück Pappkarton unter einem Motor, während seine Auszubildende bei geöffneter Motorhaube von oben etwas festhält. Die beiden scheinen sich gut zu verstehen, denn jeder Handgriff sitzt. Als Mário eine Pause macht, erklärt er mir, wie schwierig es ist, gute  Leute zu finden, die wirklich kooperativ sind und nicht mehr Pausen als Arbeit machen. Mit der Arbeit an meinem Bulli will er morgen anfangen. Und ich setze ihn über mein ablaufendes Visum in Kenntnis. "Não problema", ist seine Antwort. Irgendwie kommt mir diese Antwort typisch brasilianisch vor. Diese zwei Worte habe ich nun schon etliche Mal gehört. Deshalb bin ich skeptisch und sage ihm das auch.  "Não problema", wiederholt er. Was soll man machen?

Plötzlich sind die zwei verschwunden. Ich warte auf die Rückkehr. Und ich warte. Da wir unsere Nummern nicht getauscht haben, kann ich auch nicht nachfragen, ob sie heute noch zurückkehren würden. So sitze ich eine Weile im Bulli und scrolle mich durchs Internet, bis mir langweilig wird. Da ich von Anfang an auf die Werkstatt neugierig war, sehe ich jetzt den Augenblick gekommen, meine Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken und mache einen Rundgang durch die kleine Werkstatthalle.

Ich stelle fest, dass Mário seine Werkstatt tüchtig in Schuss hat. Alle seine Werkzeuge haben ihren Platz und man findet alles, weil es übersichtlich angeordnet ist. In einer Ecke liegen aber auch große blau lackierte Stahlteile in aufgebrochenen Holzkisten. Was das wohl ist, frage ich mich in Gedanken; weiß mir aber keine Antwort. Zwei schwer verstaubte PKW stehen da so vor sich hin und machen den Eindruck, als ob sie das schon ziemlich lange tun. Der eine hat sogar einen platten Reifen. In der langen Einfahrt zur Halle stehen weitere drei Autos, alle mit geöffneten Motorhauben. Mir erschließt sich sie Systematik der Abarbeitung seiner Reparaturen nicht so richtig. Nun, das soll auch nicht mein Bier sein!

Dann schaue ich mir die elektrische Installation der Werkstatt an. Zwei Drähte verlaufen unter der Decke und versorgen eine Steckdosenleiste und eine Eurostecker-Kupplung, wo man nur ein entsprechender Stecker rein passt. Schutzleiter? Fehlanzeige! Und das soll die ganze Stromversorgung hier sein??? Der Sherlock Holmes erwacht in mir und ich suche weitere Steckdosen. Währenddessen höre ich Stimmen und Mário taucht mit seiner Azubine auf, die jetzt einen kleinen Jungen von vielleicht zwei Jahren auf dem Arm hat. Ein weitere Junge von etwa neun Jahren befindet sich auch in der Gefolgschaft, der zielstrebig zu einem elektrischen Hebel greift und damit das Licht in der Halle einschaltet. Als ich das sehe, bekomme ich das kalte Grausen. Die elektrischen Kontakte liegen völlig frei, keine Abdeckung, die ein versehentliches Berühren der Kontakte verhindern würde.

Mário stellt mir seine Familie vor und ahnt nicht, dass mir das Fell im Nacken noch immer senkrecht steht. Aha - die Azubine ist also Mários Ehefrau Janaina. Und die beiden Jungs sind deren Kinder. Eine größere Tochter gibt es auch noch. Familienbetrieb, stelle ich fest. Bevor der Chef wieder seine Arbeit aufnimmt, muss ich mit ihm über die Gefahren sprechen, die von elektrischem Strom ausgehen. Doch er nimmt es gelassen. Das war schon immer so. O-ooooh, denke ich nur...

Zur Übernachtung stellt Mário den Bulli mit den rechten Rädern auf den Gehweg, denn die Straße macht einen derartigen Buckel, dass der Bulli sonst mit 15° Schlagseite stehen würde und ich beim Schlafen aus der Kajüte rollen würde. Dank Mário ist alles bestens. Die Familie verabschiedet sich in den Feierabend und ich nutze das WiFi, um noch Kontakte zur Außenwelt zu pflegen. Mir wird sogar der Schlüssel anvertraut, ein großer Vertrauensvorschuss. Ich gebe mir Mühe, das nicht zu enttäuschen.

Ich rechne mit einer Woche Aufenthalt hier, bis Mário den Bulli wieder flott hat. Drin lässt es sich gut aushalten, wohnen und schlafen.

Blickfang im Cockpit

Sitz- und Schlafkonfiguration

In den Ersten Tagen fühle ich mich morgens ein wenig – hmmm, klebrig. Mir fehlt eine Duschgelegenheit. Am Waschbecken der Toilette kann ich zumindest meine Zähne schruppen. Das ist wenigstens etwas!

Der Familienbetrieb rollt am nächsten Morgen wieder an und kümmert sich sogleich um den kranken Bulli. Um Haaresbreite ist Mr. Bulli einem Herzinfarkt entgangen. Den Herzkasper, den ich Live und in Farbe miterleben konnte, war wohl das letzte Warnsignal! Ferner macht Dr. Mario war ausgiebigen Verschleiß an Knochen und Gelenken offensichtlich. In Alltagssprache ausgedrückt: Zündspule, Steuerelektronik, Kraftstoffpumpe und Anlasserwicklung im Eimer, Kurbelwellenspiel an der falschen Stelle ausgeglichen. Der Lüftungsanschluss am Tank muss neu eingelötet werden. Der Verschleiß an Knochen und Gelenken sind: Lagerbuchse des Zentralbolzens für die Lenkung ist total ausgenudelt, ebenso die Lagerköpfe der Spurstangen, die Spurstangen verbogen und schließlich ist das Lenkgetriebe ebenfalls ausgenudelt. Mit größtem Ernst - was Mário sowas von schwerfällt - zeigt er mir den Zustand des vorderen linken Bremssattels. Statt mit einer starken Federklammer ist er mit einem Stück 1,5mm-Kuperdraht befestigt. "Das ist dein Nachbrenner, wenn es dir am Berghang nicht schnell genug hinunter geht..." warnt o Mário mich. Anders als für Menschen, gibt es in Brasilien einen großen Vorrat an Ersatzteilen, die schnell und zu wirklich günstigen Preisen verfügbar sind (es kommt natürlich darauf an, mit welchem Land man das vergleicht). Über Nacht ist aber alles da, per Mopedlieferdienst.

Was hier in wenigen Sätzen im Nachhinein übersichtlich zusammengeschrieben ist, kam während der Arbeiten nach und nach zum Vorschein.


Zuerst musste der Motor wieder von seiner Kernaufgabe, dem Fahrzeugantrieb, überzeugt werden, indem er mehrmals aus- und wieder eingebaut gebaut und Testfahrten gemacht werden mussten. Immer wieder wurde ein neues Problem entdeckt. Bis schließlich Mário von seiner Arbeit überzeugt war, sind mindestens zwei Wochen vergangen. Ich lerne den Qualitätsanspruch meines neuen Mechanikers kennen und schätzen.

Da Bulli nicht das einzige Fahrzeug auf seinem Hof ist und Mário auch im Wort bei anderen Kunden steht, schachtelt er auf geheime Art und Weise die Arbeiten. Doch bei mir läuft das Visum ab!!! Ich sage es ihm immer wieder, und er antwortet stets mit derselben Gelassenheit "não problema!" Bis sich dann mein letzter erlaubter Tag dem Abend zu neigt. Mir ist mulmig zumute, das Essen schmeckt mir nicht so richtig und ich schlafe schlecht. In meinem Oberstübchen spielt der neue Thriller "Prisonbreak - Horst gefangen in Brasilien".

Schon ein paar Tage später habe ich mich daran gewöhnt, denn niemand verhaftet mich auf der Straße. Mit der Zeit kenne ich die Stadt Jacaraeí durch und durch.

Ganz wichtig zu erwähnen ist Mários Mutter, die im Hause bei der Werkstatt wohnt. Auch bei ihr entdecke ich Schalter mit offenen Kontakten. Die kaskadenartige Bearbeitung meines und der anderen Fahrzeuge gibt mir reichlich Zeit und streckt meinen Aufenthalt bei uns in der Werkstatt. In der Umgebung gibt es einen Baumarkt, wo ich zwei neue Schalter kaufe. Bei Mutti habe ich dann kurzerhand den Strom abgestellt, während sie ihren Mittagschlaf verrichtet. Ratz-fatz sind die Schalter durchgerauscht und eine Abdeckung installiert, so dass hier niemand mehr zu Schaden kommen kann. Bei Ende des Mittagschlafs war alles erledigt. Leider habe ich zwei Drähte vertauscht, und eine Lampe draußen funktioniert nicht mehr. Trotzdem freut sich Mutti wie ein kleines Kind, als sie die neuen Schalter und die Abdeckung sieht. Später muss ich da noch mal bei, erkläre ich ihr.

Chef-Mutter (Mitte) ist immer mit wachem Auge dabei

Dieses "Später" ist gleich am nächsten Tag. Wieviele Drähte habe zwei brasilianische Lampen? Genau vier. Einen, der Strom liefert, zwei zum Schalten und einen bei dem der Strom zurück fließt. Das ist alles. Jetzt also nochmal alles auseinander nehmen und schauen, welchen Draht ich vertauscht habe. Um die Geschichte, die mich den GANZEN Tag gekostet hat, kurz zu fassen: Wie auch immer ich die Drähte neu durchgepiepst und die Stromführung neu geprüft habe, es will mir nicht gelingen, die betreffende Lampe wieder zu aktivieren. Schließlich greift Mário ein – und schon ist das Problem gelöst. Ja Sacramento... was hat dieser Kerl anderes gemacht??? Er erklärt mir, dass die Installation noch woanders an ein stromführendes Kabel angeschossen sei. Ich kann es nicht fassen. Und stromlogisch erklären kann ich es mir gleich zweimal nicht. Zwar bin ich happy, dass nun beide Lampen funktionieren, aber innerlich verwirrt bin ich über die Frage, wie man hier Elektroinstallationen verlegt.

Als ich den Chefinstallateur nach der Funktion seiner Stromversorgung in seiner Halle befrage, scheint die Antwort eher einer "normalen" Logik zu entsprechen. "Wie wäre es, in der Halle verteilt ein paar Steckdosen zu haben, um beispielsweise Prüfgeräte näher am zu reparierenden Auto zu haben?" frage ich ihn. Mário zeigt mir, wo er überall Steckdosen installieren würde, wenn er mal Zeit dafür hat. Als nächstes zeigt er mir einen Karton voll mit Steckdosen, die er schon gekauft hat. Die nächsten drei Tage bin ich also wieder beschäftigt. Schließlich steht seine Halle voll unter Strom.

4x Steckdosenleisten installiert

"Was liegt dort eigentlich in den Holzkisten in der Ecke?" frage ich irgendwann. 

"Das ist meine Hebebühne." 

"Wie viele Autos hast du darauf denn schon repariert?" will ich wissen.

Er lacht. "Es ist ein Bausatz, den ich vor zwei Jahren gekauft habe. Aber ich habe keine Zeit und keine Leute, die mir helfen, sie aufzustellen."

Aha! "Verstehe" sage ich, "dann wirst du sie wieder verkaufen an jemand, der Zeit und Leute hat, sie aufzustellen – oder brauchst du die Teile, um deine Arbeitsfläche zu blockieren..." provoziere ich und überlege in Gedanken, was ich tun könnte, ihm beim Aufbau zu helfen.

"Nee, meine Frau liegt mir damit auch ständig in den Ohren."

Er zeigt mir die Stelle, wo er die Hebebühne gerne stehen haben möchte. Dort ist der Boden bereits dafür markiert. Es gibt auch eine Aufbauanleitung auf YouTube, erkläre er mir.

Über Nacht schaue ich die Aufbauanleitung an und mache einen Plan mit vier Punktfundamenten, in welche die vier Bolzen in Beton eingegossen werden sollten, damit das Ding sicher verankert ist. Diesen Plan präsentiere ich Mário und seiner Frau am nächsten Morgen. Màrio ist derart begeistert, dass er vergisst, seine Autos zu reparieren und stattdessen mit einem BOSCH Bohrhammer loslegt, das erste Loch für den Befestigungsbolzen zu stemmen.

"Langsam, langsam" mahne ich ihn und schicke ihn zu seinen Autos. Gehorsam macht er sich an seine Reparaturen. Ich setze mich über einen Schreibblock und beginne, eine Stückliste zu erstellen: zwei Sack Zement, entsprechend Sand oder Kies, vier lange Bolzen M16 mit großen U-Scheiben und selbstsichernde Muttern, 12 m Kabel. Sicherungsschalter. Das ist nicht sehr viel, aber ich will nicht mehrmals einkaufen.

Der Boden für die vier Fundamente ist schnell aufgestemmt, weil die Substanz ziemlich weich und mit etwa zehn Zentimetern recht dünn ist. Die Löcher selbst sollen 50 cm tief werden. Hier bekomme ich aber mit reichlich Bauschutt zu tun und es kostet mich viel Schweiß, sie auszuheben. Wegen der Nachbarn, deren Häuser direkt Wand an Wand mit der Halle stehen, kann ich diese Arbeit nur tagsüber tun. Zwei Tage bin ich allein mit diesen vier Löchern beschäftigt, die schließlich 70-80 cm tief geworden sind. 

Am Abend schweiße ich Metallstücke an die Bolzen, damit sie im Beton fest eingebettet werden.


Das Grundgerüst der Hebebühne dient als Schablone. Damit kann ich die Bolzen exakt ausrichten, während die Löcher mit Beton gefüllt werden. Leider war meine Berechnung für Zement und Sand so ungenau, dass mir genau die Hälfte fehlt. Doch Mário scheint es nicht im Mindesten zu stören, deshalb ein weiteres Mal einkaufen zu fahren.

In meinen ersten Tagen, die ich hier in der Straße campiere, habe ich morgens stets zwei oder drei Männer an der Tribüne gesehen, die hier an ihrer Rückseite eine Tür hat. Dort haben diese Jungs offensichtlich einen Bierhandel. Ich hatte sie angesprochen und gefragt, ob sie mir Zugang zur Dusche geben könnten. Und das haben sie getan. Einer der beiden heißt Claudinei, mit dem ich mich auch sehr angefreundet habe.

Claudinei, der Bierhändler

So konnte ich fortan morgens geduscht in den Tag gehen. Auch die sonstigen Nachbarn kennen mich bereits nach ein paar Tagen und grüßen mich stets und man redet über den Alemão (den Deutschen) im ganzen Viertel. Als ich nämlich eines Abends in einer Bar mit Live-Musik, der Kuxixo Bar, ein Bierchen trinken will, kommt der Besitzer direkt auf mich zu "ola alemão" und wir reden eine Weile miteinander. Auch bei einigen Gästen bin ich bereits bekannt. Das ist doch wirklich kein Wunder, mein Aufenthalt hier hat sich bereits auf über drei Wochen ausgedehnt. 

Nach drei Tagen, die ich den Beton habe ruhen lassen, trommle ich Claudinei von der Tribüne und ein paar seiner Kollegen zusammen, um die Pfosten der Hebebühne aufzustellen. Für zwei Personen soll es gemäß Anleitung zwar möglich sein, aber Jürgen Podehl sagt immer "was einer kann, fällt zweien nicht schwer". In diesem Sinne sind wir nun fünf erwachsene Männer, um die Pfosten der Hebebühne aufzustellen.

Der erste Pfosten steht – jetzt die Kette ausrichten 

Mário schaut zuerst etwas verwirrt drein und will mich zurückrufen, als ich zu Claudinei gehe. Hinterher erklärt er mir, dass er noch nie fremde Menschen um Hilfe gebeten habe. Aber nun durch meine unerschrockene Art sieht, dass man das sehr wohl machen kann. Binnen einer Stunde sehen die Pfosten an ihrem Platz, exakt ausgerichtet und festgeschraubt. Am danach kommt der elektrische Anschluss an die Reihe und – tataaa – die Hebebühne ist betriebsbereit.

Die Reparaturen am Bulli gehen auch voran. Die gesamte Lenkmechanik ist neu. Eifrig schraubt Mário am Bulli herum, von unter, von der Seite – überall. Doch wenn ihn unter den Autos auf seinen Pappstücken liegen sehe, tut mir mein eigener Rücken weh, weil ich weiß, wie unbequem das ist.

Der Meister bei der Arbeit mit tatkräftiger Unterstützung

Zentralbolzen – rechts ausgebaut
mit beschädigten Buchsen,
links das Originalersatzteil


Nun fehlt nur noch die Reparatur der Handbremse, die ja überhaupt keine Wirkung zeigt. Wie Ober schon erwähnt stellt sich bei der Reparatur der miserabel installierte Bremssattel. Mir kommt es vor, als sei der Bulli ein Fass ohne Boden geworden. Und ich bin wirklich froh, hier bei Mário abgeladen worden zu sein, einem Mechaniker, der seinen Job ernst nimmt und Gefahren im Vorwege erkennt und darauf hinweist.

Für die Arbeiten an der Elektrik und dem Aufbau der Hebebühne war ich mehrmals zum Baumarkt gelaufen. Direkt daneben gibt es auch einen Autoteilehändler. Dort entdecke ich ein Rollbrett und denke sofort an die Rückenschmerzen, die Mário immer durchstehen muss, wenn er unter den Autos liegt. Ohne lange nachzudenken kaufe ich das Rollbrett, dass auch eine Polsterung hat und verstecke es im Bulli. Als Mário mit seiner Familie im Feierabend verschwindet, bin ich in der Werkstatt und baue das Rollbrett zusammen. Es ist nämlich genau wie ein IKEA-Bausatz im Karton verpackt. Am nächsten Morgen gibt es große Augen, als ich Mário das Rollbrett vorführe und es ihm als sein vorgezogenes Geburtstagsgeschenk übergebe. 


Mittlerweile sind wir gute Freunde geworden. Die brasilianische Gastfreundschaft bekomme ich auch bei ihm zu spüren, als ich im Verlauf der – mittlerweile vier Wochen in Jarareí – mehrmals zu ihm nach Hause eingeladen werde. 

Zuhause bei Mário und seiner Familie (Hanglage)

Besonders erwähnen möchte ich auch Claudineis Gastfreundschaft, der ein Ferienhaus in den Bergen hat. Er will mich unbedingt dorthin einmal mitnehmen. Normalerweise verbringt er mit seiner Familie dort immer ein ganzes Wochenende. Nur für mich nimmt er sich einen Samstag frei, um mir die Gegend und sein Haus dort zu zeigen. Tukane und andere Vögel, die ich nicht kenne, bevölkern dort die Lüfte – einfach herrlich!!! Immer wieder staune ich über die Freundschaft und Offenheit, die mir entgegengebracht wird.

Ferienhaus mit...

...sagenhaftem...

...Ausblick

Mário lässt durchblicken, dass er nicht möchte, dass ich meine Reise fortsetze, sondern in Jacareí bleiben soll. Ob die Reparaturen deswegen so lange dauern..., resümiere ich für mich. Sei's drum, Mário und seine Familie sind yrichtig liebe, angenehme Menschen. Kein Wunder, dass wir gute Freunde geworden sind.

Über all die lange Zeit, die ich bei und in der Werkstatt verbringe und viele Gespräche mit vielen Leuten über meinen Bulli hatte, reifte in mir der Entschluss, nun doch alle Schritte einzuleiten, die erforderlich sind, um den Wagen auf meinen Namen zuzulassen. 

Màrio schlägt sofort die Hände überm Kopf zusammen, als er davon hört. "Das wird nicht funktionieren. Brasilien ist das bürokratischste Land der Welt" behauptet er. 

"Na, das wollen wir doch mal sehen" halte ich dagegen und denke 'wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg'.

Mit seiner Hilfe liste ich zuerst alles auf, was fehlt. Denn Listen erstellen kann ich gut. Bei gründlicher Überlegung steht am Ende nur ein Eintrag in der Liste: Certificado De Registro De Veiculo, die Besitzurkunde. Als nächstes nennt Mário alle erforderlichen Maßnahmen, die zur Erlangung dieses Zertifikats getroffen werden müssen. Jetzt lohnt es sich, eine Liste anzulegen.

  • Die Person ausfindig machen, auf die das Fahrzeug noch immer zugelassen ist (José Carlos S.) und das Zertifikat einfordern.
    • Falls verloren, Kopie bei DETRAN anfordern
    • Dafür eidesstattliche Erklärung von José Carlos S., dass er nicht mehr im Besitz des Wagens ist.
  • Technische Prüfung 
  • Notar zur Eigenumsüberschreibung
  • Neues Kennzeichen
  • Steuerzahlung

Für mich schaut das sehr übersichtlich aus und die größte Herausforderung wird wohl sein, José Carlos zu finden. Tatsächlich haben wir dessen Spur ziemlich schnell herausgefunden, indem ich Arnaldo den ganzen Vorgang geschildert hatte und er jemand kannte, der jemand anderes kannte, und so weiter. Mário hat Kontakt mit José aufgenommen. Und tatsächlich hat José sein Zertifikat verloren.  Ein paar Tage später treffen wir ihn. Ein Notar ist auch schnell gefunden, so dass ich die Abtretungserklärung habe. Damit ist der Weg frei für die Beurkundung für mich als Eigentümer durch einen anderen Notar, der den Bulli auf mich überschreibt.

Bezüglich der technischen Prüfung mache ich mir keine Sorgen, denn Mário hat den Wagen top-fit gemacht. Doch Pustekuchen, der technische Prüfer schaut kaum auf den technischen Zustand, lediglich die Lichter werfen auf Funktion geprüft. Ansonsten liegt der Schwerpunkt auf der Übereinstimmung der Konfigurqation mit der Dokumentation. Beanstandet wird der Motor als Ganzes, denn dessen Nummer stimmt nicht überein mit der Dokumentation, ebenso die Anzahl der Sitzplätze. Eingetragen sind neun Sitzplätze, aber der Ausbau zum Wohnmobil gibt keine neun Sitzplätze mehr her. Last but not least, kommt die Prüfung der Fahrzeugnummer dran. Um hierbei nicht auf die Nase zu fallen, hatte ich das vorher schon selbst überprüft. Zum Glück stimmt hier alles!

Doch der Prüder schüttelt den Kopf und meint, er könne eine Manipulation bei der Nummer nicht ausschließen. Waaas??? Wie jetzt, warum das? Nun, es könnte sein, dass das ganze Blechteil vom Chassis aus einem anderen Fahrzeug stammt und hier eingeschweißt wurde. Ich traue meinen Hörgeräten nicht und checke, ob die gehackt wurden und ein Synchronsprecher mich auf den Arm nehmen will. Ab er der Prüfer bleibt ernst. Eine kurze Rücksprache mit Mário, der mir bei allem großartige Unterstützung leistet, führt zum Entschluss, einen anderen Prüfer aufzusuchen, denn es sind alles Privatfirmen, die von der Behörde zugelassen sind. Wir fahren in den benachbarten Stadtteil zu einer anderen Prüfungsfirma. Dort höre ich das Gleiche und will wissen, wie ich Gewissheit zu der Frage der Echtheit dieser Fahrzeugnummer bekomme. Dafür müsse ich direkt zur Behörde fahren, die dort eine Prüfstelle haben. Aber eins sollte ich wissen, bevor ich hinfahre: wenn dort Manipulation festgestellt wird, dann wird der Wagen sofort aus dem Verkehr gezogen. 

NEIIIIIN... Das darf nicht wahr sein!!!

Dies ist die letzte Information, die ich im Zusammenhang mit der Überschreibung einsammle. Meine ganze Motivation rauscht gerade den Bach hinunter und ich will diesen Bulli nicht mehr haben – und auch keinen anderen mehr. 

Es dauert ein paar Tage, bis ich mich wieder beruhigt habe. 

Nun bin ich bereits 20 Tage illegal im Lande. Irgendwie macht mir das jetzt nach dem frustrierenden Erlebnis etwas aus und ich denke mit Unbehagen an die unvermeidlichen Diskussionen an der Grenze. Als ich Mário das sage, ruft er die nächstgelegene Polizeidienststelle in São José an und fragt, was das für mich bedeuten würde. Ich müsse 100 Reais (~16 €) pro Tag Strafe zahlen. Wop, das sind mal eben 320 Tacken extra. Aber hey, irgendwo kriege ich das wieder eingespart. Jetzt ist es eh nicht mehr zu ändern. Aber das Bedürfnis, aus Brasilien herauszukommen ist nicht mehr zu leugnen, trotz aller Freundschaft. Ich komme gerne mal wieder. Das kann ich jedoch nur, wenn ich erst verschwinde. 

Der nächste Tag ist der Polizei, genauer der Federal Police gewidmet. Denn ich will alles regeln, was ich regeln kann, um die Grenze schnell und ohne Aufhebens passieren zu können. Dort erwartet mich eine Überraschung: die 100 Reais ergeben sich aus der Berechnung von 5 Reais pro Tag mal 20 Tage = 100 Reais für zwanzig Tage illegalen Aufenthalts. Für meine Ausreise bekomme ich eine Frist von 60 Tagen, die mir aber nicht in Rechnung gestellt werden. Offensichtlich hat entweder Mário etwas falsch verstanden, oder ich habe ihn falsch verstanden. Solche Missverständnisse kann es gerne öfter geben.

Mit sechzig Tagen im Gepäck bin ich wieder entspannt. 

Mário würde zwar gerne, aber er kann nicht – den Bulli abkaufen. Ich jedenfalls will ihn definitiv nicht mehr behalten. Mit Mário einige ich mich, dass der Wagen bei ihm bleibt und dass er ihn verkauft. Vom Verkaufspreis behält er die Hälfte und überweist mir die andere Hälfte. Damit haben wir eine Win-Win Situation geschaffen und den Anreiz für einen möglichst hohen Verkaufspreis.

Als ich am 15. August aufbreche und Jacareí in einem Reisebus Richtung São Paulo mit Blumenau als Ziel verlasse, bin ich, seit mich der Abschleppdienst bei Mário abgeladen hat, insgesamt sieben volle Wochen hier gewesen.

Das ist meine Bulli-Story.

Eins weiß ich genau: hätte ich den Wagen nie gekauft, dann wäre ich natürlich wie bisher durch die Weltgeschichte gereist mit Bus und Bahn, und würde immer wieder bereuen, mir den Bulli nicht zugelegt zu haben, um die Freiheit des eigenen fahrbaren Untersatzes zu spüren. Dass es nun so gelaufen ist, ist zwar schade, aber ich bereue es nicht! Es ist eine interessante Geschichte, die ich gerne zum Besten gebe und die gerne gehört wird. 

Raus aus Brasilien

Jetzt kann ich mir wieder Zeit lassen. Zwei weitere Monate um über die Grenz nach Paraguay zu kommen, sind mehr als ausreichend. Mit dem Bulli hatte ich ja schon Blumenau im Visier. Das ist immer noch mein Ziel und nicht auf kürzestem Wege raus aus dem Land. Vielleicht würde ich sogar noch einmal in São Paulo ein oder zwei Tage bleiben, um Vitor nochmal zu treffen. Doch nein, das ergibt sich nicht, da Vitor auf Reisen ist.

Blumenau

Als ich Brasilien betreten habe und mir überlegt habe, welche Orte ich unbedingt sehen möchte, stand Blumenau von Anfang an auf meiner Wunschliste. Dort soll angeblich das größte Oktoberfest außerhalb Deutschlands stattfinden. Ich will hin, auch wenn es nicht die Zeit des Oktoberfests ist.

Dieser Abstecher wäre kaum erwähnenswert, wenn ich nicht so enttäuscht wäre. Die Stadt liegt wunderschön im Tal des geschwungenen Rio Itajaí, umgeben von grünem Bergland. Ich würde sagen, dass es so ein bisschen Ähnlichkeit mit dem Schwarzwald oder Sauerland in Deutschland hier hat.

Ich streife durch die Stadt und recht verteilt finden  sich deutsch anmutende Gebäude und Fassaden. In manchen Schaufenstern sind Dirndl und unechte Lederhosen zu sehen. Dann ein älteres Backsteingebäude, dem zwanzig deutsche Flaggen an die Fassade befestigt wurden. Neugierig stelle ich fest, dass es ein Restaurant ist. Fürs Mittagessen ist es noch etwas zu früh, aber nach meinem Rundgang durch diese deutsche Stadt, werde ich genau hier einkehren.

Deutsche Eindrücke in Blumenau

Der Rundgang ist unspektakulär, aber ich habe Hunger, als ich eintrete. Derb-rustikale Einrichtung, Im Hintergrund dudelt Heino und andere Volksschlager. Ich setze mich und schaue neugierig auf die Karte. Schweinshaxe steht in großen Lettern ganz oben. In kleiner Schrift die Übersetzung auf portugiesisch. Als der Kellner kommt, bestelle ich: "Eisbein mit Sauerkraut und Spätzle – und a Moß frisch zopft's Bier." Ich versuche es etwas bayerisch klingen zu lassen.

Deutschlandfahnen rund ums Haus

Dann blicke ich in zwei Augen, deren Begeisterung wie zwei blasse Teelichter funzeln. Und ich weiß sofort, der Typ hat nichts verstanden. Ich zeige auf die Karte, was ich bestellen möchte. "Aah Numero dois" (Nummer zwei), bestätigt der Obergefreite. Hatte ich mich schon auf einen Schwatz in lupenreinem Deutsch gefreut, so ist mir gerade fast der Appetit vergangen.

Tja, so läuft es mit Erwartungen. Sie sind die beste Voraussetzung für Enttäuschungen.

Abschluss mit großem Finale

Von Blumenau geht's direkt nach Iguaçu, dem Städtchen, das am Dreiländereck von Brasilien, Argentinien und Paraguay und den kolossalen Iguazu-Fällen liegt. Mein Quartier finde ich im Tetris-Hostel, das seinem Namen alle Ehre macht. Denn man hat es aus Standardcontainern so nebeneinander und übereinander geschachtelt, dass es wie das Tetris-Spiel aussieht.

Bei den Wasserfällen angekommen, überkommt mich tiefe Ehrfurcht vor dem Schöpfer Himmels und der Erden. So mächtig stürzen die Wassermassen unaufhörlich in die Tiefe. Leider können diese statischen Bilder nicht die Emotionen entfachen, die im realen Erleben entstehen...




Am 21. August 2024 pilgere ich von der Stadt Iguaçu über die Brücke des Rio Paraná und damit über die Grenze von Brasilien nach Paraguay. 


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