Horst war dann mal weg: Ex-Airbus-Manager pilgert tausende Kilometer zu Fuß
Corona ist schuld, dass Horst Bargsten seit sieben Monaten zu Fuß unterwegs ist. Vielleicht wäre der beim Ausbruch der Pandemie 60-Jährige sonst mit Beginn der passiven Phase der Altersteilzeit um die Welt geflogen. „Einmal um den Globus“ war das Ziel des langjährigen Airbus-Mitarbeiters, das er sich für den Übergang in die neue Lebensphase gesetzt hatte. „Aber im Lockdown zu reisen, erschien mir nicht die beste Idee zu sein“, sagt Horst Bargsten. Irgendwer brachte ihn auf die Idee, den Jakobsweg zu gehen. Die Via Baltica führt an der Haustür vorbei. Pilgern statt Hotel mit Pool, das gefiel dem Flugzeugbauer.
Bisher war ihm das Haus so wichtig, staunt ein Kollege
Ein Jahr lang bereitete sich der Familienvater, dessen Kinder längst auf eigenen Füßen stehen und dessen Ehe vor langer Zeit zerbrach, auf die Pilgerreise vor. Er sammelte Informationen, kaufte sich einen großen Rucksack, passende Kleidung und Ausrüstung. „Aber was mache ich währenddessen mit meinem Haus und dem Auto? Wann werde ich überhaupt wieder nach Hause kommen?“, fragte er sich. Vermieten wollte er nicht, um nicht irgendwo weit weg von Ahlerstedt eine SMS zu bekommen in der Art: Die Heizung ist kaputt, was sollen wir tun? „Also habe ich das Haus verkauft und mein Auto verschenkt“, sagt Bargsten. An der alten Arbeitsstelle in Finkenwerder sorgte das für großes Erstaunen.
„Wir saßen bei Horst im Garten und feierten seinen Abschied“, erzählt sein ehemaliger Kollege André Benedict. Da habe dieser erzählt, dass er im Oktober losgehen werde. „Bisher war Horst dieses Haus in Ahlerstedt so wichtig, er ist kaum in Urlaub gefahren und jetzt das“, bricht es aus André Benedict heraus. Dass Horst Bargsten tatsächlich über den Winter losmarschiert, ist nicht nur für den einstigen Kollegen einfach unglaublich.
Helferpause im Ahrtal und Zeit für ein Herzensprojekt
In einer Whatsapp-Gruppe und über ein satellitengestütztes Programm für Touren können Freunde und Bekannte von Bargsten bis heute jeden Schritt mitverfolgen. Erst geht es bis Bremen, dann quer durch Deutschland. Als er am Ahrtal vorbeikommt und dort, Monate nach der Flutkatastrophe, Freiwillige für den Wiederaufbau gesucht werden, macht Horst Bargsten eine Pause. Vier Wochen lang hilft er beim Schuttentfernen, Fassadenabklopfen, baut in einem Haus, von dem nur noch Wände und Dach zu gebrauchen sind, eine Küche ein. Zum ersten Mal seit langer Zeit schläft er mehrere Tage hintereinander an derselben Stelle, ist nicht mehr allein.
„Der Helfer-Shuttle hat mich mit Kusshand aufgenommen und alles angeboten, was man so braucht: Arbeitskleidung, Werkzeuge, Essen und sogar ein Schlafzelt“, erzählt Horst Bargsten. Als die Hilfs-Initiative am 21. Dezember eine Winterpause einlegt, nimmt er die Bahn. Über Weihnachten fährt er damit zu seiner Tochter nach Fulda. Von dort aus setzt er am 7. Januar die Pilgerreise fort, läuft von Frankfurt nach Mainz, weiter bis Speyer und Bruchsal, Karlsruhe, Baden-Baden, „und auf einmal war ich in Basel. Deutschland zu Fuß durchquert, unfassbar“, sagt Horst Bargsten.
Das Pilgerbuch ist neben dem Blog Zeugnis der Reise: https://mit60umdenglobus.blogspot.com
An diesem Punkt der Reise überlegt er kurz. „Im vergangenen Jahr hatte ich das Gleitschirmfliegen in Sonthofen begonnen, aber nicht zu Ende bringen können. Die Prüfung fehlte noch“, sagt der 62-Jährige, dessen Spitzname Flieger-Horst ist. So nah wie jetzt würde er dem Allgäu so schnell nicht wieder kommen. „Also habe ich ein Ticket gelöst und bin nach Sonthofen gefahren. Zwei Wochen später hatte ich den Flugschein.“
Grenzerfahrung im Schnee auf 1400 Metern Höhe
Weiter geht es danach mit der Pilgerreise: Scheidegg, Bregenz, Rorschach, St. Gallen und dann diagonal durch die Schweiz über Luzern, Bern, Lausanne nach Genf. „Abgesehen von guten Freunden, die mich auf verschiedenen Etappen für einige Tage begleitet haben, war ich ganz allein unterwegs“, sagt Horst Bargsten. Erst von Le Puy an, südlich von Lyon, wird es voller auf dem Jakobsweg. „Hier starten jeden Morgen nach der Messe in der Kathedrale um 7 Uhr sehr viele Pilger“, sagt der Mann, der auf der Reise ein neues Sehen gelernt hat. „Es ist so viel Zeit, Dinge wie die Veränderungen der Jahreszeiten und der Natur anzuschauen und zu bewundern. Ich nehme das jetzt viel bewusster wahr“, sagt er.
Der bislang steilste Aufstieg geht von Einsiedeln nach Schwyz bis auf über 1400 Meter. „An dieser nach Nordosten gerichteten Flanke lag viel Schnee, wo ich häufig knietief einsank“, erzählt der Pilger. Als er oben an eine noch in Betrieb befindliche Skipiste kommt, verliert sich die Wegmarkierung. „So ziemlich am Ende meiner Kräfte, war ich nah dran aufzugeben und mich von Skifahrern einsammeln zu lassen“, sagt Bargsten. Nach einer Verschnaufpause aber marschiert er weiter bis zum Hagenegg-Pass. Eine offene Alm ohne Schnee folgt. Die nächste Mahlzeit im Warmen bleibt Horst Bargsten für immer unvergessen.
Für 20 Euro gibt es mal Pritsche, mal Polstermöbel
Er hat Genügsamkeit gelernt. „Nur mein Rucksackinhalt und einfachste Betten machen mich zufrieden“, sagt er. Es gebe keinen Frust, auch nicht nach sieben Monaten. „Ich finde es erstaunlich, mit wie wenig Dingen ein wundervolles Leben möglich ist.“
Geübt hat er die Genügsamkeit vor allem in den Nächten. Pilgerunterkünfte sind selten luxuriös. Einmal bekam er zwischen meterhoch getürmten Kartons eine Matratze zugewiesen, in einer Wohnung, in der die Gastgeber neben einem Aquarium auch Katzen und Hühner in der Wohnstube hielten. Aber auch Pilgerzimmer auf dem Niveau eines guten Hotels, mit Vier-Gänge-Menü zum Abend und opulentem Frühstück am Morgen gab es. Zwischen diesen Varianten liegen Preise zwischen 20 und 40 Euro. Jeder gibt, was es ihm wert ist, unter Pilgern heißt es „Donativo“.
Immer wieder gibt es Menschen, die sich dem Wanderer offenbaren. Wildfremde, die mit Bewunderung seine Geschichte anhören und ihre erzählen. „Martin zum Beispiel war auf dem Weg zum Physiotherapeuten und hat mir binnen 20 Minuten unter Tränen seine Lebenskrise offenbart. Oder Christine, die mir von einer überstandenen Krebserkrankung berichtete und sich anschließend fürs Gespräch mit einer Mahlzeit bedankte.“ In einem Restaurant bezahlt spontan jemand Bargsten die Pizza. Es gibt etwas zu feiern, derjenige hat Geburtstag. Der Pilger wird eingeladen.
Wiedersehen mit Mutter Melitta , zu deren 89. Geburtstag Horst Bargsten „nach Hause“ kommt.
Bis zum Zwischenziel Toulouse sind es 2750 Kilometer zu Fuß
Wahrscheinlich stimme es, dass er als anderer Mensch ankommt und nicht mehr der ist, der vor nun 2750 Kilometern losgelaufen ist, überlegt Horst Bargsten. Aber so hoch würde er es gar nicht hängen. Seine Reise auf den eigenen Füßen macht ihm Spaß, erfüllt ihn mit Stolz. „202 Tage nach meinem Start in Norddeutschland erreiche ich das Werkstor von Airbus in Toulouse/Blagnac. Ein unbeschreibliches Gefühl, am Werkstor zu stehen. Ich kann es selbst nicht glauben, bis hierher gelaufen zu sein“, schreibt Horst Bargsten. Im Durchschnitt läuft er 25 Kilometer pro Tag. Die Strecke variiert zwischen 15 und 32 Kilometern.
In Toulouse nimmt ihn ein Arbeitskollege mit zu sich nach Hause. Kurz darauf fliegt Bargsten für ein paar Tage nach Deutschland. Er will seine Mutter Melitta besuchen, die ihren 89. Geburtstag feiert. Sie ist an Demenz erkrankt. Es wäre zu viel, ihr die ganze Geschichte seiner Reise zu erzählen. Aber sie kennt ihren Sohn ja, den mittleren von drei Jungs. Seine Sehnsucht zu fliegen und die Natur zu entdecken, das war immer da.
Dass er jetzt heimatlos durch die Welt zieht, sei nicht gerade normal. „Landstreicher nennt man das wohl auch“, sagt Bargsten. Aber er hat nie die Verbindung abgebrochen. Das Handy, seine Krankenversicherung, die Kreditkarte und eine Flasche Wasser sind das Wichtigste im Rucksack. Das Wertvollste, sagt er, ist ein ausgedrucktes Foto mit seinen beiden Kindern drauf.
Am Montag, 30. Mai, geht es von Deutschland zurück nach Toulouse. Wie weit der Weg ihn noch führt? „Erst einmal bis Santiago de Compostela und dann mal weitersehen“, sagt Horst Bargsten. Es klingt nicht, als wäre das Ende des Pilgerwegs auch das Ende seiner Reise.
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Nachtrag vom 31. Mai 2022
Was die von der Zeitung alles bringen... 😅
Auf die Frage "wie geht's?" habe ich ganz spontan und jovial geantwortet. Und die haben es unverändert und ungekürzt abgedruckt. Naja, eigentlich doch ganz cool - und vor allem authentisch. Danke ❤
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