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Mittwoch, 29. Dezember 2021

Das waren meine besten Momente in 2021


Horst's kleiner Almanach

Ich meine, es ist eine gute Sache, zum Ende eines Jahres einmal inne zu halten, um auf die Ereignisse zurückzublicken und sich zu erinnern, was einem die Zeit so gebracht hat, wie sie etwas gelehrt hat und wofür man dankbar sein kann. Es gibt auch Menschen, die den Ärger und die Misserfolge zusammenzahlen, um diejenigen zu identifizieren, die daran schuld sind. Zu diesen Leuten will ich nicht gehören, denn ich finde, dass mir dafür mein Leben zu schade ist.

Das Titelbild zeigt, wie ich diesen Artikel gedanklich begonnen habe, indem ich das, was mein Leben am meisten beeinflusst hat in gegenseitigen Bezug gesetzt habe. Und schon sah ich, dass fast alles miteinander in einem irgendwie gearteten Zusammenhang steht: mein Mut, meine Entscheidungen, Erlebnisse und Erfahrungen, die Menschen in meinem Leben und die daraus resultierende Dankbarkeit.

Januar bis Dezember
Gleich in den allerersten Tagen des neuen Jahres hatte ich das Glück eines Volltreffers beim schönen Geschlecht. Der zuerst etwas holprige Kontaktaufbau entwickelte sich zu einer richtig schönen kleinen Beziehung. Leider nur für kurze Zeit.

Ein ganz entscheidender Tag war der 26. Januar 2021, ein Dienstag. Drei Tage und Nächte lang zuvor kreisten meine Gedanken nur noch um die eine Frage: "Hab ich das alles richtig gemacht?". Denn an diesem Tag sollte der notarielle Vertrag zum Verkauf meines Hauses in Ahlerstedt geschlossen und unterschrieben werden. Die Entscheidung hatte ich zwar schon im alten Jahr getroffen, aber nach der Unterschrift würde es kein zurück mehr geben. Es kostete mich dennoch Mut und Entscheidungsstärke. 

Von Januar bis März hatte ich ausgiebig Gelegenheit, Mentaltechniken von Ralf Dubois in Stade kennenzulernen. Eigentlich war ich nur neugierig und wollte etwas mehr darüber erfahren, als was man durch Stichwortsuche bei Google findet. Was ich hier gesehen, gelernt und selbst ausprobieren konnte, übertraf meine Vorstellungen bei weitem. Zwei ganz bedeutende Schalter habe ich hier zu betätigen gelernt: Angst und Schmerz auszuschalten. Aber auch noch anderes. Ein Beispiel: Stell dir vor, du liegst im Bett, willst einschlafen und plötzlich verzerrt sich dein hübsches entspanntes Antlitz durch einen Krampf im Bein oder Fuß zu einer schrägen Grimasse. Zum Glück ist es dunkel und niemand sieht es. Und nun gehst du her, akzeptierst für einen kleinen Moment dieses scheußliche Gefühl im Laufwerk, um dem Krampf ein Ansage zu machen, als wäre er eine Person. Du sagst zu ihm: "Hey, was willst du hier? Ich habe dich nicht bestellt. Verschwinde!" Binnen weniger Sekunden verschwindet er tatsächlich und du bist wieder völlig frei davon, kuschelst dich wie gewohnt in deine Kissen und freust dich auf eine Nacht mit wunderschönen Träumen. Das ist meine neue Realität.

Horst lernt fliegen. Von Ende Mai bis Anfang Juni und im August konnte ich am Kurs im Gleitschirmfliegen teilnehmen und die wichtigen Höhenflüge mit allen erforderlichen Manövern absolvieren. War das ein Spaß! Als schließlich die Prüfung auf dem Programm stand, schlug das Wetter um und die Prüfung musste leider verschoben werden. Na gut, aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben.

Mein Weihnachtsgeschenk, das mir meine Kinder im Jahr 2020 im Hinblick auf meine Pilgerreise machten, konnte ich aufgrund der Einschränkungen durch Covid-19 nicht wie geplant im März, sondern erst im September einlösen. Es war ein Wochenend-Seminar "Wildniswandern". Dort lernte ich, wie man mit nur einem einzigen Streichholz Feuer machen kann, selbst wenn das Holz feucht ist. Ich lernte, wie man sich bei Gewitter verhält, wie man Wasser aufbereiten kann, wie man sich mit Karte und Kompass durchs Gelände navigiert, wie man ein Tarp aufstellt, das Wetter liest, und vieles mehr. Vor allem aber lernte ich dort ganz tolle Menschen kennen, wie beispielsweise Alex Barfuß und der Rotwein-Alex, die Wildnis-Kathrin, Förstertochter Tina, die Naturfreundinnen Moni, Carolin, Christina, Judith und Nicole. Ich hab nur gestaunt, wieviele Mädels ihr Make-up Zuhause lassen und an so einem Kurs teilnehmen und sich dabei nicht zu schade sind, sich die Hände schmutzig zu machen oder sich nachts nassregnen zu lassen. Respekt!!! 

Das größte Erlebnis-Feuerwerk überhaupt, hab ich mit meiner Pilgerreise gezündet. Die Übergabe des Hauses am 16. Oktober habe ich schon über den Vertrag so gelegt, dass ich mit dem Rucksack auf dem Rücken den Schlüssel and die Nachbesitzer Nils und Denise übergebe. Damit erfolgte ein Abschied von Ahlerstedt, meiner Heimat und dem Ort, wo ich aufgewachsen bin, meine Kindheit verbrachte, Wo ich mich mit meiner Frau niedergelassen hatte, um eine Familie zu gründen. Unsere Kinder wurden hier geboren und sind hier aufgewachsen. Abschied von meiner Mutter, die im Seniorenheim Ahlerstedt lebt, von meinem Onkel Hans-Jürgen auf dem Doosthof, von meiner Kirchengemeinde, von den Nachbarn, mit denen ich ein tolles Verhältnis habe. Das alles hat eine große Bedeutung für mich. Auf der anderen Seite habe ich viele Begegnungen gehabt, die ich mir so nicht hätte vorstellen können. Wundervolle Freundschaften sind entstanden.

In Stichpunkten hier noch einige Ereignisse:
  • Meinen geliebten OPEL Corsa (Nachlass von meiner geschiedenen Frau), der mich in den neun Jahren über 200.000 km durch die Weltgeschichte gefahren hat, habe ich am 15. Oktober dem Fahranfänger Maxi D. (17) geschenkt. Riesen Freude ausgelöst.
  • Meinen Geburtstag am 25. Oktober als Pilger hatte ich mir völlig anders vorgestellt, als ich ihn schließlich erlebte. 
  • Am 27. Oktober sah es so aus, als ob ich in einem Bushaltehäuschen oder irgendwo in der Botanik übernachten müsste, weil ich die Etappenlänge unterschätzt hatte und den geplanten Ort nicht mehr bei Helligkeit erreichen würde - wäre da nicht die liebe Ute gewesen. Als ich nach einer Unterkunft fragte, hat mir die Gartenpartyhütte als Quartier angeboten und ich war gerettet.
  • Vom 20. November bis 21. Dezember konnte ich die tolle Erfahrung machen, Helfer im Ahrtal zu sein: Helfen macht glücklich!
  • Jeden Sonntag konnte ich jeden Gottesdienst in einer Neuapostolischen Kirche erleben. Unerwartet treffe dabei Andreas F. in der Gemeinde Neuwied.
Was soll ich sagen?
2021 war ein Jahr mit vielen neuen Dingen, die ich gelernt habe, ein Jahr mit Begegnungen und Empfindungen, die ich nicht missen möchte. Es war ein Jahr mit Einsichten und Erfahrungen, die mich bereichert und aufgebaut haben, wie kaum ein anderes. 

Viele Menschen haben Wundervolles an mir getan, indem sie ihre Zeit mit mir verbrachten und mir neue Impulse gaben. Sie haben mir Herberge gegeben, ohne Gegenleistung anzunehmen. Sie haben sich für mich eingesetzt. Sie haben mich an ihrem Tisch speisen lassen. Wenn ich etwas brauchte, haben sie es mir einfach geschenkt. Ich empfinde eine tiefe Dankbarkeit all diesen lieben Menschen gegenüber!

Jedem Menschen, der dies liest, wünsche ich ebensolche Erlebnisse. Vielmehr jedoch tiefe Zufriedenheit, Freude am Geben, dankbares Annehmen, und ein angstfreies und in jeder Hinsicht erfülltes glückliches neues Jahr 2022.


Freitag, 24. Dezember 2021

Pilgerunterbrechung fürs Ahrtal - Rückblick

Für über einen Monat, genauer gesagt vom 20. November bis zum 21. Dezember durfte ich mit meiner kleinen Kraft beim Aufräumen und Wiederaufbau im Ahrtal mithelfen, wo im Sommer 2021 eine verheerenden Flutwelle massiv zerstörte Gebäude und Infrastruktur zurückgelassen hatte. Dies war eine prägende Erfahrung. Im Blogartikel zuvor hatte ich schon einiges darüber berichtet und wie es dazu kam.

Die Region Ahrtal

Die Ahr ist ein Nebenfluß des Rheins und erstreckt sich über 85 km. Sie durchzieht die Eifel, ein Mittelgebirge vulkanischeen Ursprungs in Rheinland-Pfalz im Westen Deutschlands. Der Weinanbau an den ca. 300 m tiefen Talhängen, den Ortschaften mit zum Teil uralten geschichtsträchtigen Fachwerkhäusern und dazu der wunderschön geschwungene Verlauf des Flusses im Tal macht das Ahrtal zu einem interssanten und begehrten Urlaubs- und Erholungsgebiet.

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass mich diese Gegend nie wirklich interessiert hat und dass ich da zuvor nicht gewesen bin. Außer einmal als pubertierender Jüngling. Damals hatte ich aber noch schlimmere Flausen im Kopf als heute und für landschaftliche Reize kein Auge.

Meine Entscheidung zur Mithilfe

Bezogen auf meine Pilgerreise hätte ich den Fluß bei der Stadt Sinzig überqueren müssen. Deshalb habe ich mich in Köln mit der Frage auseinandergesetzt, ob - und wenn ja - wie ich dort helfen könnte.

Die Suchergebnisse im Internet förderten zwei Haupttreffer zutage: Helfer-Shuttle und Dachzeltnomaden. Ich habe mich schnell für den Helfer-Shuttle entschieden, da deren Camp meinem Weg am nächsten lag. Außerdem überzeugte mich die Webseite des Helfer-Shuttle, weil ich dort eine Art Infrastruktur erkennen konnte, die mich als Pilger in der Helferabsicht mit Tools (Arbeitsklamotten, Schaufeln, Akku-Schrauber, Shuttle-Service, Futter, etc.) am besten unterstützen würde.

So machte ich mich von Villip aus auf den Weg nach Grafschaft-Ringen, wo ich ein Camp vorfand, das mir die Sprachee verschlug. Dort waren Zelte und Pavillons aufgestellt für die Ausgabe von belegten Brötchen, Kuchen, Kaffee, Tee und kleine Süßigkeiten, für Arbeitskleidung jeder Größe, für Covid-Tests, und ein Gemeinschaftszelt so groß wie die Bierzelte vom Oktoberfest. Dann waren da Containerbüros für die Auftragskoordination. Die Scouts mit ihrer orangenen Warnweste, die die passenden Leute für die Aufträge zusammenstellten. Und die Shuttle-Busse, die unübersehbar ihren Dienst taten. Auch ein Merchandizing-Pavillon gab es mit Artikeln, wie Buttons, Caps, Hoodies, etc. mit welchen man seine Zugehörigkeit zum Helfer-Shuttle nach außen zeigen konnte. Wooow...

Helfen

An etlichen Projekten durfte ich mitmachen: Schlamm aus einem Weinberg beseitigen, Fenster zunageln, ein Containerdorf für Betroffene herrichten, Tapeten von Wänden entfernen, Lebensmittel im Bunker einlagern, die Küche eines Betroffenen aufbauen. Als Einzelner könnte man vielleicht meinen "Was kann ich schon bewirken, was bringt mein Einsatz hier?", wenn man an einem Tag zum Schlamm beseitigen eingesetzt wird und am nächsen Tag zum Tapeten entfernen und am dritten Tag wieder woanders. Ich glaube, dass jeder Handgriff ein Teil des Großen und Ganzen ist. Und dann zählt es!


Nach Außen sind diese Projekte sind gewiss der sichtbare Teil beim Helfen. Das Unsichtbare könnte in manchen Fällen vielleicht sogar wertvoller sein als das Sichtbare. Hier meine ich die Gespräche, in denen Sorgen und Nöte und gleichzeitig viel, viel Dankbarkeit zum Ausdruck kamen - das Fundament für neue Freundschaften. Nicht nur zwischen Betroffenen und Helfern, sondern auch unter anderen Helfern habe ich neue Freundschaften knüpfen können. Vielleicht klingt es etwas pathetisch, aber ich empfinde es wie ein Band, dass alle Beteiligten umschlingt: Miteinander und Füreinander da sein!

Das Ausmaß


Häuser, die wie Totenköpfe aussehen, weil die Außenfassaden bereits heruntergeschlagen sind und innen der Putz von den Wänden herunter ist und die Estrichböden herausgestemmt wurden, Fenster und Türen entfernt sind und kein Leben zu sehen ist. Straßen, die entweder unbefahrbar, verengt oder geschottert sind, jedoch ausschließlich dreckig sind. Autos, die aussehen, als kämen sie von einer Ralleycross-Piste. Insgesamt sind die Ortschaften wie ausgestorben, Ghost Towns. Immer noch nach fünf Monaten. Es sind nur einzelne Gebäude, in denen abends in den oberen Stockwerken Licht zu sehen ist. Das ist schon ziemlich bedrückend.

Zu Anfang haben ich bei meinen Einsätzen drei oder vier solcher Orte gesehen. Als ich aber bei Wolfram in Schuld für zwei ganze Wochen geblieben bin, war Materialbeschaffung erforderlich, sodass er mich zu OBI nach Rheinbach mitnahm. Dabei sind wir fast das ganz Tal durchfahren. Mir wurde fast schlecht, als ich sah, wie jeder Ort in dieser verheerenden Weise betroffen war. Es hörte überhaupt nicht auf. Ein Ort nach dem anderen... Der Schaden ist wirklich immens!

Ich werde immer mal wieder gefragt, wie es dort ist, weil man über die Medien kaum etwas darüber erfährt. Das einzige, das ich sagen kann ist: 

BITTE NEHMT EUCH DIE ZEIT, SETZT EUCH INS AUTO UND FAHRT HIN, SCHAUT ES EUCH AN, VERSCHAFFT EUCH EINEN EIGENEN EINDRUCK!!!

Auf YouTube gibt es massenhaft Videos, aber es mit eigene Augen gesehen zu haben ist etwas ganz anderes. Nochmal - und ich meine es wirklich so und hat nichts mit Schaulust oder Gaffen zu tun: Fahrt hin, schaut und sprecht mit den Menschen dort!

Überraschungen

"Unverhofft kommt oft" ist ein altes deutsches Sprichwort, dem ich bislang nicht besonders viel Bedeutung beigemessen habe. Was ich allerdings bei meiner Ahrtal-Hilfe alles erlebt habe, sprengt meine Vorstellungskraft. Hier nur zwei Beispiele von vielen ähnlicher Erfahrungen.

Wenn jemand länger als einen Tag im Ahrtal helfen möchte, braucht so jemand ein Dach überm Kopf. Vor allem in der kalten Jahreszeit. Ewald und Jutta, meine Gastgeber in Neuwied hatten mir ihr Gästezimmer angeboten. Sie waren froh, auf diese Weise einen Beitrag leisten zu können. Daher boten sie mir die Unterkunft auf unbegrenzte Zeit an. Aber nicht nur das. Von Neuwied zum Helfer-Shuttle ist es eine Enttfernung von rund 50 km. Nun sollte ich unbedingt den Zweitwagen benutzen, um dorthin zu kommen. Und wehe, wenn ich irgendwas bezahlen würde... Kommt überhaupt nicht infrage! Da dieser Zweitwagen ein E-Scooter ist, konnte ich noch nicht einmal auftanken.

Das andere Beispiel war in einer Apotheke, wo ich ein ABC-Pflaster für meinen Rücken kaufen wollte. Im Gespräch mit dem Apotheker kamen wir auf die Zustände im Ahrtal zu sprechen und er sah mein Shirt mit dem Aufdruck vom Helfer-Shuttle. Es war ein längeres Gespräch, weil der Apotheker wissen wollte, wie es als Helfer dort so ist. Als ich schließlich bezahlen wollte, sagte er "Ist schon erledigt!". Ich verstand nicht. Er meinte, das gehht auf seine Kappe und er sei dankbar dafür, mich kennengelernt zu haben... Was soll man dazu sagen???

Neue Freunde

Wie schon mehrfach angesprochen, freue ich mich riesig über fremde Menschen, die hierdurch in mein Leben getreten sind und Freunde wurden oder Freundschaften, die dadurch neuen Wind in die Segel bekommen haben: Wolfram, Ewald und Jutta, Thomas, Claudia, Elfi und Peter, André, Ulf, Markus, Heike I, Heike II, Olaf, Sandra. Auch wenn ich noch nicht weiß, wann ich euch wiedersehe - man sieht sich mindestens zweimal im Leben. Das Leben ist schön!!!

Jetzt wird's Weihnachten und ich habe mich entschlossen, meine Pilgerreise nach Weihnachten fortzusetzen. An welchem Tag genau? Sag ich noch nicht - Weihnachtsüberraschung. Oder für die, die mich schon etwas besser kennen: Ich plane, nicht mehr zu planen!!!

FROHE WEIHNACHTEN - FELIZ NAVIDAD - GLADE JUL - MERRY CHRISTMAS

Freitag, 26. November 2021

Ein Pilger wird Helfer

 

Mein Jakobsweg zwischen Köln und Koblenz führt sehr nah am Ahrtal vorbei, wo ja durch die enormen Regenfälle am 14. und 15. Juli 2021 eine unglaublich zerstörerische Flutwelle entstand. Die Schäden an der gesamten Infrastruktur sind noch lange nicht behoben. Eine Welle der Hilfs- und Spendenbereitschaft hat wohl in vielen Fällen die erste Not der betroffenen Menschen gelindert. Nach anfänglichem Chaos bei der Hilfswilligkeit vieler Menschen, sind einige Organisationen auf den Plan getreten, die den Bedarf an Hilfe und Unterstützung mit dem Hilfsangebot der Helfer koordinieren. Eine dieser Organisationen ist helfer-shuttle.de

Natürlich wusste ich bereits bei meinem Start in Ahlerstedt, dass ich am Ahrtal vorbei kommen würde. Schon da hatte ich mit dem Gedanken gespielt, mich vielleicht als freiwilliger Helfer einzubringen. Aber ich wollte es "auf mich zukommmen lassen" und hatte mich nicht weiter informiert. In Köln war ich nahe genug darn und erstmals nach Hilfsmöglichkeiten gegoogelt. Durch meine krankheitsbedingte Reiseunterbrechung bekam ich reichlich Zeit, darüber zu Recherchieren. Schließlich wuchs der Entschluss, es auch zu tun und beim Aufräumen und Aufbauen im Ahrtal mitzuhelfen. Mein Wahl fiel auf den Helfer-Shuttle, weil es keine offiziell registrierte Organisation ist, wie beispielsweise ein Verein, wo Kompetenzgerangel geben könnte, was den Spaß und die Effizienz kille macht.

Helfer-Shuttle Organisation 

Im Industriepark des Ortes Grafschaft, wo die Firma HARIBO unübersehbar seinen Hauptsitz hat, wurde eine Fußballfeld große Fläche für Helfer-Shuttle "bebaut" mit drei Lagerzelten für jede Art von Arbeitskleidung in allen Größen, Sicherheitsschuhen, Gummistiefeln, Wollsocken, Arbeitshandschuhe, usw., einem großen Lagerzelt für Arbeitsgeräte, ein Freilager für Schubkarren, Schaufeln, Eimern, etc., einem Verpflegungszelt und einem - naja, sieht nach Partyzelt aus, das wohl in erster Linie für die After-Work-Zusammenkünfte und Nachbesprechungen gedacht ist. 

 

Die Leute von Helfer-Shuttle sind einfach ein Haufen Freiwilliger, die einfach alles selbst in die Hand nehmen, damit wenig burokratischer Aufwnad entsteht und die richtigen Leute an den richtigen Ort kommen. Sie kümmern sich um Sammlung von Geld- und Sachspenden, Registrierung von Hilfsgesuchen und Erstellung von Arbeitsaufträgen, Beschaffung von Bussen und 9-sitzigen Mannschaftswagen, Fahrer, Scouts für Helfereinteilung, Orga der Verpflegung (Frühstück, Mittag, Abendessen), Bereitstellung von Übernschtungsmöglichkeiten, Dixi-Klo und, und, und. Ich glaube, gerade wegen der freiwilligen Helfer, die sich für alles einsetzen lassen, läuft das Ganze ziemlich reibungsfrei. Etliche von ihnen sind schon über Wochen im Einsatz.

Auftragsvergabe für Helfer

Ein Container dient der Auftragskoordination. Dort sitzen zumeist zwei oder drei Mädels rund um die Uhr und nehmen die Hilfsgesuche der betroffenen Menschen aus dem Ahrtal entgegen und bereiten daraus Helfer-Aufträge vor. Morgens bewaffnen sich die Scouts, erkennbar an orangefarbenen Westen, mit diesen Aufträgen und suchen jeweils für die Aufträge die passende Zahl an Helfern.

Bevor es in den Bus geht, muss jeder Helfer einen Corona-Schnelltest machen, für den es eigens eine Teststation beim Helfer-Shuttle gibt.

Hier folgen nun ein paar Aufträge, an denen ich beteiligt war.

Dernau - Weingarten entschlacken 

 Auf den überfluteten Flächen lagerte sich Schlamm ab, der sich über die vergangenen vier Monate verdichtet hat. Dieser Schlamm liegt nun mit einer Dicke von etwa 10 cm auf dem Boden und droht die Wurzeln der Weeinstöcke zu ersticken. Also muss die Schlammschicht raus.

Dreißig Helfer bildeten das Schlamm-Team. Mit Spaten und Schaufel haben wir uns an die Arbeit gemacht. Es stand uns nur eine Schubkarre zur Verfügung und jede Menge Eimer. Wegen des Abstands der Weinstockreihen von vielleicht Eins-Achtzig, haben jeweils zwei Mann nebeneinander mit Spaten vorweg den Schlamm gelockert und zwei weitere dahinter mit Schaufeln die Schubkarre gefüllt. Das Gleiche passierte in einer anderen Reihe - allerdings mit Eimern. Diese andere Reihe mit den Eimern war viel interessanter, denn jeder Eimer wurde in einer Eimerkette bis zur Straße durchgereicht, dort ausgeleert und wieder zur Schaufelstelle vorgereicht. Wir hatten dabei jede Menge Spaß, den die Schubkarrenfahrer leider nicht so hatten.

Mit unserer Truppe haben wir eine Reihe von vielleicht 50 Meter Länge entschlammt. Das kommt mir vor, wie der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Oh man, da ist noch so viel, das noch zu bearbeiten ist...

Mayschoß - Hotel enttapezieren

Vom Hotel Lochmühle kam der Auftrag "Tapeten entfernen". Es handelt sich hierbei um ein ziemlich mondänes Haus, das sehr wahrscheinlich schon so manche Berühmtheit begrüßt hatte. Allerdings ist es auch in die Jahre gekommen, hat seine besten Zeiten wohl hinter sich und hat auch ganz offensichtlich schon seit längerer Zeit keinen Erfrischungspinsel und Modernisierungsspachtel mehr gesehen. Vielleicht kam dem Besitzer diese verheerende Flut für eine Sanierung sogar ganz gelegen und all die kostenlosen Arbeiter aus den Helferorganisationen noch dazu...? Oh, bin ich jetzt negativ? Das soll ja nicht sein. Passt nicht zu mir. Also schnell Themenwechsel!
Ich bin Helfer. Also frage nicht nach der Absicht des Hilfsauftrags. Also ran an die Tapeten! Immer schön zu Zweit in einem Zimmer - Elke ist meine Kollegin, ausgerüstet mit einem halben Dutzend Spachteln und einer Sprühflasche der Noname-Marke OK, gefüllt mit Wasser. Ach du meine Güte, der Wandbehang ist ja mit Latexfarbe gestrichen. Aijaijai - das wird teuer. Erst mit der Nagelrolle drüberrollen. Dann einsprühen. Warten. Nix! Ich hab's ja gleich gewusst, das geht nur mit dem Spachtel. Sich mit dem Spachtel durch die fette Farbe wühlen und dann die obere Schicht der Tapete abziehen. Die reißt natürlich ein und lässt sich nicht gerne in Bahnen herunterziehen. Also Fitzelchen um Fitzelchen abkratzen, abschaben, abwürgen... um dann endlich das darunter liegende Papier mit Sprühwasser einzuweichen. Schließlich haben wir gewonnen und das ganze kleine Zimmer an einem Tag geschafft - aber mehr auch nicht. Grrr!

Dernau - Fenster zunageln

Constanze ist die Auftraggeberin. Ihr gehört das Haus, von dem die Flut drei Fenster zerstört hatte und die jetzt winterfest gemacht werden mussten. Mein Mithelfer ist Markus, ein fröhlicher Typ aus dem Wienerwald.... ach nee, Westerwald heißt das doch. Constanze hatte alles Material schon besorgt und bereitgestellt: Spanplatten, Dachlatten, Kaffee und Kuchen! Markus und ich hatten vom BaumAHRkt des Helfer-Shuttles Handkreissäge und Bohrmaschine mitgebracht. Nach Begrüßung und dem obligatorischen Kennenlernkaffee, bei dem wir erfuhren, wie schnell das Wasser kam und die Außentreppe hochmarschierte, sich kurz im Erdgeschoss umschaute, das einen Meter über der Straße liegt, und dann ins Obergeschoss stieg, und Constanze binnen 15 bis 20 Minuten nichts mehr hatte, außer was sie am Leib trug.

Mit Markus zusammenzuarbeiten ist wie ein Fest. Das lief wie geschmiert. Ausmessen, anzeichnen, die Platten auf Maß schneiden, einpassen, festschauben. Zack-zack-zack-fertig! So macht helfen Spaß!

Dernau - Lebensmittel im Bunker umlagern

Ich weiß nicht, wie die Logistik von Sachspenden organisiert ist. Vielleicht gar nicht so richtig. Auf jeden Fall gibt es im Ahrtal in etwas höherer Lage ein paar Bunker, die zu Zeiten des Kaiserreichs als Eisenbahntunne gebaut wurden und im Dritten Reich zu Forschungs- und Produktionsbunkern für Raketenwaffen umfunktioniert wurden. Hier ist jetzt reichlich viel Platz und es ist trocken. Daher wird der Bunker als Lagerfläche für gespendete Hilfsgüter verwendet.

Mit acht Helfern hatten wir den Auftrag, neu angekommene Lebensmittel dort in vorhandene Regale einzusortieren. Mehrmals fuhr ein Geländewagen mit gefülltem Anhänger vor die Bunkertore, die wir dann abluden und in den Tiefen des Bunkers einlagerten.

Ahrweiler - Notunterkünfte bewohnbar machen

Der Bus des Helfer-Shuttle brachte uns diesmal nach Ahrweiler, mit dem Auftrag, ein ehemaliges Containerdorf aus Berlin, für Flutopfer herzurichten. Die Container waren bereits aufgestellt, elektrifiziert, von innen mit Putzfarbe gestrichen, und der Fußboden war auch schon ausgelegt. Das bedeutet, dass die schlimmste Arbeit, nämlich die Reinigung bereits erledigt war. Jede "Wohnung" ist eigentlich eine Zwei-Zimmer-Wohnung und besteht aus drei Containern, die nebeneinander stehen. Sie sind gedacht für Paare und Familien mit bis zu einem Kind. Im mittleren Container befindet sich der Eingang, eine Kochzeile, Dusche und WC. Rechts davon dann imer ein Wohnzimmer und links das Schlafzimmer (siehe Grundriss).

Für die Malerarbeiten waren die Clips für die Rohre mit den Elektroleitungen und die Aufputz-Steckdoden und -Schalter von der Wand abgeschraubt. Hier hatte ich schnell meine Aufgabe gefunden, diese Installation wieder ordnungsgemäß anzubringen. Andere Helfer beschäftigten sich mit dem Aufbau der IKEA-Möbel.

Die Zustände im Ahrtal rund vier Monate nach der Flut

Meine Beschreibungen beziehen sich auf die Ortschaften Dernau und Mayschoss. Aber ich denke, die anderen Orte sehen nicht wesentlich anders aus.

Schutt und Gerümpel ist nur noch wenig zu sehen, und auch keine Halden mehr. Diesbezüglich ist enorm viel geleistet worden. Die Häuser und Gebäude sind zumeist im Zustand eines Rohbaus, das heißt, dass Putze und Verkleidungen abgestemmt sind, Estriche entfernt sind und alles immer noch am Trocknen ist. Fensterlöcher sind vielfach zugenagelt. Abgerissene Wände sind nur mit Folien gegen eindringenden Regen geschützt. Bewohnbar sind von den betroffenen Häusern nur sehr wenige, vielleicht eins von zehn. Und wenn überhaupt, dann nur in den Obergeschossen. Die Wassermarke ist gut zu sehen und befindet sich an manchen Gebäuden in der Mitte des zweiten Obergeschosses.

Die Straßen sind über verschiedene Strecken reine Schotterpisten. Überall wird von den relativ wenigen Fahrzeugen mächtig Staub aufgewirbelt. Alles im Baustellenzustand.

Es scheint, als habe fast keine Brücke die Macht der Fluten und ihrer Mitbringsel heil überstanden. Oft stehen nur noch die Pfeiler da. In anderen Fällen eine halbe Brücke...

Die Talebene ist so gut wie vollständig planiert und sieht total trostlos aus, weil keine Bäume und Büsche da sind. Man ist jetzt dabei, Schichten von Mutterboden aufzutragen.

Der Mut der Menschen scheint zurückzukehren. Heute, am Freitag, den 26.11.2021, sieht man geschmückte Tannenbäume vor den Häusern.



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